
Hintergrund
Warum schmeckt Espresso in Italien eigentlich so viel besser?
von Martin Jungfer
In Wiener Kaffeehäusern wurden Romane verfasst, Kabarettprogramme geschrieben, wichtige Verhandlungen geführt. Die Wiener Kaffeehauskultur gehört seit 2011 zum immateriellen Kulturerbe der Unesco. Und das erste internationale Mitglied im Wiener Kaffesiederclub ausserhalb Österreichs gibt es in: Romanshorn.
Ja, Romanshorn. Städtchen am Bodensee, Kanton Thurgau, etwa 11000 Einwohner. Laut Wikipedia gibt es hier folgende Sehenswürdigkeiten: drei Kirchen, ehemalige Lagerhallen und das Alte Zollhaus am Hafen sowie eine private Sammlung von Sportautos im ehemaligen Tanklager der früheren Alkoholverwaltung. Und ausgerechnet hier befindet sich das «Wiener Kaffee Franzl», ein Kaffeehaus, das zum exklusiven Kreis der besten Kaffeehäuser der österreichischen Hauptstadt zählt. Benannt nach Kaiser Franz Joseph I., der als Habsburger von 1848 bis zu seinem Tod im Jahr 1916 stolze 68 Jahre lang die Geschicke der Donaumonarchie lenkte.
Im Oktober 2016 haben sich Tatjana und Norbert Mahr – hundert Jahre nach dem Tod des Kaisers – ihr kleines kulinarisches Paradies geschaffen. Gelobt wird das Kaffeehaus von Autorinnen und Autoren etlicher Gastronomie-Fachmagazine. Gleich im Jahr der Gründung wurde das «Franzl» aufgenommen in die Liste «Who is who im Thurgau». Und 2018 wurde ihm die Ehre gleich noch einmal zuteil. An Aufmerksamkeit für ihr Projekt mangelte es den Inhabern des Kaffeehauses also von Anfang an nicht. Und inzwischen haben Norbert und Tatjana Mahr mit ihrem Team sehr viele Stammgäste gewonnen, auch über die Stadtgrenze hinaus. In Romanshorn haben die Menschen schätzen gelernt, was Wiener Gastfreundschaft bedeutet.
Diese wird auch bezeugt durch die Mitgliedschaft des «Franzl» im elitären «Klub der Wiener Kaffeehausbesitzer». Es ist das einzige Café ausserhalb Österreichs, dass die Wiener Kaffeehauskultur offiziell vertreten darf. Die Mitglieder des Klubs in Österreich sind so grosse Namen wie Sacher, Ritter oder Landmann. Wer hier dabei ist, hat eine Aufnahmeprozedur hinter sich, bei der allerlei abgeprüft wird, was ein Kaffeehaus mitbringen muss: vom Zeitungsangebot über durchgängig warme Speisen bis hin zur Frage nach regelmässigen kulturellen Veranstaltungen.
Dass der Weg zur Akzeptanz für das Paar Mahr steinig war, erzählt Norbert im Gespräch. Vor allem im ersten Jahr «war es eine wilde Achterbahnfahrt», sagt Mahr. «Die Leute in Romanshorn haben gesagt, wir bringen Leben rein. Aber wir mussten auch ganz oft in uns selbst wieder Leben reinbringen», erinnert er sich. Anstrengend war die Gründungsphase für die Neu-Gastronomen. Als gelernter Konditor brachte Norbert zwar das nötige Handwerkszeug mit. Allerdings war er vor dem Start mit dem «Franzl» viele Jahre lang im Management von Textilunternehmen aktiv statt in der Konditorei. Er flog für Puma, Strellson oder Navyboot um die Welt. Bis es ihm irgendwann zu viel wurde. Er stieg aus. Und schmiedete mit seiner Frau zusammen den Plan, ein Stück der Heimat in die Schweiz zu holen - in Form eines Kaffeehauses.
Dass sie heute nach vier Jahren einen nach allem Anschein gut laufenden gastronomischen Betrieb führen und sogar vorsichtige Gedanken an eine Expansion hegen, hat weniger mit Glück zu tun, dafür viel mit der spürbaren Überzeugung des Paars. Beide sind sie in Wien geboren. Beide haben auch nach vielen Jahren in der Schweiz ihren Wiener Dialekt nicht verloren. Tatjana spielt die Trumpfkarte im Service aus. Viele der Gäste begrüsst und verabschiedet sie namentlich, dank des «phänomenalen Namensgedächtnisses», wie Gemahl Norbert lobt. Übrigens heisst’s bei der Ankunft «Grüss Gott» und beim Gehen «Servus» oder auch schon mal «Baba», wenn man sich schon länger kennt. Ein «Grüezi» entlarvt die erstmaligen Besucher.
Die Sprache ist allerdings nur ein Teil des Wiener Flairs mitten in Romanshorn. In einem Kaffeehaus erlebt der Gast einige weitere Annehmlichkeiten. Man wird nicht gedrängt, geniesst den Kaffee in aller Ruhe, es wird nicht laut gestritten, aus dem Smartphone plärrende Videos gibt es auch nicht. Gepflegt wird ein ruhiger Umgangston. Gelesen werden Zeitungen, deren neueste Ausgaben täglich in einen Halter aus Holz eingespannt werden. Das ermöglicht würdevolles Blättern und Lesen.
«Wenn jemand bei uns am Morgen kommt und den ganzen Tag bis zum Abend nur einen Kaffee trinkt, ist das auch in Ordnung für uns», betont Norbert Mahr. In Wien sei das Kaffeehaus das erweiterte Wohnzimmer, heisst es. Oder, wie es der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar einst formulierte: «Im Kaffeehaus sitzen Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.» Österreichischer Humor eben.
Dazu gibt es im «Franzl» die typischen Speisen des Alpen-Nachbarn: Kaiserschmarrn, Gulasch, Tafelspitz, Marillenknödel, Wiener Schnitzel, Sacher Torte. Zu jeder Tageszeit gibt es irgendetwas für Hungrige. Kaffee serviert das «Franzl» natürlich auch. Die Varianten heissen hier: Brauner, Einspänner, Melange oder Kapuziner. Wer es noch exotischer möchte, bestellt einen «Kaffee Sissi» und bekommt einen im Glas servierten doppelten Mokka mit Kaffeelikör, Schokolade und Schlagobers. So heisst in Österreich der Schlagrahm. Obligatorisch in Wiener Kaffeehäusern ist das Glas Wasser zu jedem Kaffee.
Bis er die richtigen Bohnen für die Wiener Kaffeespezialitäten gefunden hatte, war es für Norbert Mahr ein längerer Weg des Ausprobierens. Glücklich und fündig geworden ist er bei der Rösterei Demmel in Liechtenstein. “Peter Demmel war 2016 österreichischer Kaffeeröstmeister”, beeilt sich Norbert Mahr zu betonen. Nicht, dass man hier Verrat wittern müsste an der österreichischen Kultur. Der Espresso rinnt in Romanshorn aus einer grossen goldfarbenen Elektra-Espressomaschine im Stil der Belle Epoque in die Tasse. Das Gerät dominiert die Bar im «Franzl» und fügt sich als funktionales Kunstwerk ins Ambiente des Cafés ein. Auf der Kuchentheke steht ein kleiner Manner-Automat, der die berühmten Waffelschnitten enthält. Das Modell einer Wiener Pferdekutsche, dem Fiaker, ziert ein Regalbrett im Schaufenster. Die Kulisse für zwei gemütliche Sessel bildet ein grossformatiges Poster, das die Gloriette von Schloss Schönbrunn zeigt. Das Gebäude diente Kaiserin Sissi als Frühstückspavillion.
Die Dimensionen eines so herrschaftlichen Gebäudes hat das «Franzl» natürlich nicht. Gefeiert wird aber auch hier. Gelegentlich ist sogar der Kaiser zu Besuch. Die Reinkarnation wird möglich, weil Tatjana Mahr dafür ihren Vater hoheitlich schminkt, frisiert und kleidet. Ihre langjährige Tätigkeit als Friseurin und Weiterbildung als Maskenbildnerin schafft ein authentisches monarchisches Erlebnis und für die Besucherinnen und Besucher des «Franzl» die Gelegenheit für ein nicht ganz alltägliches Selfie.
Journalist seit 1997. Stationen in Franken, am Bodensee, in Obwalden und Nidwalden sowie in Zürich. Familienvater seit 2014. Experte für redaktionelle Organisation und Motivation. Thematische Schwerpunkte bei Nachhaltigkeit, Werkzeugen fürs Homeoffice, schönen Sachen im Haushalt, kreativen Spielzeugen und Sportartikeln.