Was passiert bei der Geburt? Sieben Fakten über das Zur-Welt-Kommen
Hintergrund

Was passiert bei der Geburt? Sieben Fakten über das Zur-Welt-Kommen

Die Geburt ist eine Naturgewalt. Jedes menschliche Leben beginnt mit ihr und das jeden Tag seit Millionen von Jahren. Trotzdem gibt sie der Wissenschaft bis heute Rätsel auf. Sieben Fakten, die bekannt sind, stehen hier.

Das Zur-Welt-Kommen ist ein Ausnahmeerlebnis, an das sich später niemand mehr erinnert. Ein unheimlicher Kraftakt der Gebärenden, der körperlich, psychisch und seelisch in seiner Intensität mit nichts vergleichbar ist. Was bei der Geburt genau passiert, ist nicht gut erforscht und gibt der Medizin bis heute Rätsel auf.

Nach der Klitoris, der Menstruation, der Vulva und der weiblichen Brust folgt die Geburt – in sieben Fakten.

Ein Rätsel der Medizin: Was genau passiert bei der Geburt?

Die Geburt ist etwas vom Alltäglichsten der Welt. Warum man trotzdem so wenig über sie weiß, warum es heute häufiger zu Kaiserschnitten kommt und was es mit der Orgasmus-Geburt auf sich hat, erfährst du jetzt.

1. Die Geburt ist eines der am wenigsten erforschten Gebiete in der Medizin

Jeden Tag werden Kinder geboren. Alleine in der Schweiz kommen rund 224 Neugeborene am Tag zur Welt. Dennoch weiß die Medizin erstaunlich wenig darüber, welche chemischen, hormonellen und körperlichen Prozesse vor, während und nach der Geburt ineinandergreifen, wie Mutter und Kind dabei zusammenarbeiten oder wie sich das Kind währenddessen fühlt.

In einer umfassenden Recherche der Süddeutschen Zeitung (Bezahl-Artikel) lässt sich nachlesen, warum das so ist. Wolf Lütje zufolge, Chefarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe des Evangelischen Amalie Sieveking Krankenhauses in Hamburg, sei die Geburt das «am schlechtesten erforschte Gebiet der gesamten Medizin». Er nennt zwei Gründe:

Studien zur Geburt basieren aktuell auf Beobachtungen und klinischen Erfahrungen. Großangelegte Studien mit Kontrollgruppen liegen dagegen nicht vor – weil man es moralisch nicht rechtfertigen könnte. Dazu müsste man beispielsweise einer Gruppe an Gebärenden eine natürliche Geburt ermöglichen, während man einer Kontrollgruppe mitunter unnötige Kaiserschnitte zumutet.

Ein zweiter Grund ist die Finanzierung der Studien. Die Pharmaindustrie hat wenig Interesse, die Wirkung von Medikamenten auf Schwangerschaft und Geburt zu erforschen, da Betroffene ohnehin kaum Medikamente einnehmen dürfen.

2. Die Geburt beginnt bereits vier Wochen vor der Entbindung

In Filmen beginnt die Geburt sturzflutartig. In der Realität hingegen startet sie gemächlich, die Fruchtblase platzt meist erst während der Geburt und es kann Stunden dauern, bis man ins Krankenhaus oder Geburtshaus fahren muss. Bei Erstgebärenden daurt eine Geburt durchschnittlich zwischen 12 und 18 Stunden (wobei so ziemlich alles zwischen 1 und 48 Stunden passieren kann), bei jeder weiteren Geburt verkürzt sich die Dauer auf sechs bis acht Stunden. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Der tatsächliche Geburtsbeginn findet aber im Verborgenen statt – lange, bevor man überhaupt an das Entbinden denkt: Ungefähr vier Wochen vor dem Geburtstermin. Schon jetzt trainiert der Körper für die Geburt und es kommt zu den ersten Senkwehen. Das Kind rutscht jetzt tiefer ins Becken, sein Kopf passt sich der Beckenform an, um später durch den Geburtskanal zu passen, der Schwangerenbauch sinkt wortwörtlich ab.

Zudem bemerken Forschende der Stanford University in Blutuntersuchungen schwangerer Frauen einen Anstieg von Botenstoffen wie Progesteron und Cortisol Wochen vor der Geburt. Laut den Ergebnissen werden zudem Stoffe gegen Blutgerinnung ausgeschüttet, um den Blutverlust während der Geburt niedrig zu halten. Auch ein Fine-Tuning des Immunsystems findet Wochen vor dem errechneten Termin statt: Dabei produziert der Körper ein Protein, das den Uterus in Alarmbereitschaft für die Geburt versetzt.

3. Das Kind leitet die Geburt ein

Was das finale Signal für den Geburtsstart gibt, ist nicht abschließend geklärt. Untersuchungen legen aber nahe: Den Startschuss setzt niemand geringeres als das Kind selbst – durch freischwimmende Erbgutstücke aus dem kindlichen Plazentagewebe, die in den mütterlichen Kreislauf gelangen. Kindliche DNA ist bereits ab der vierten Schwangerschaftswoche im Blut der Mutter nachweisbar – je näher die Geburt rückt, desto höher wird die Konzentration. Die kindliche DNA löst eine Entzündung im Körper der Mutter aus, die signalisiert: Es geht los.

Zudem scheint ein für den Atemprozess wichtiges Protein die Wehen einzuleiten. Die ausgereifte Lunge des Ungeborenen setzt das Protein ab und stellt damit sicher, dass die Geburt erst dann beginnt, wenn das Kind eigenständig atmen kann.

4. Die Geburt verläuft in vier Phasen

Ist der Startschuss einmal gesetzt, verläuft die Geburt in vier Phasen. In der Eröffnungsphase setzen regelmäßige Wehen ein, eingeleitet durch das Hormon Oxytocin. Regelmäßige Kontraktionen der Gebärmutter drücken den Kopf des Kindes tiefer in das Becken der Mutter. Seit Monaten macht das Hormon Relaxin die Sehnen, Bänder und später den Muttermund weich. Der Druck des Kindskopfes erhöht sich, wodurch sich Gebärmutterhals (Zervix) und Vagina immer weiter verkürzen und eine Art Trichter bilden: Das ist der geöffnete Muttermund.

Ist er vollständig geöffnet (die benötigten 10 Zentimeter), beginnt die Austrittsphase: Die Fruchtblase platzt jetzt in den meisten Fällen und das Kind rutscht in den Geburtskanal. Dabei hat es noch ein paar Hürden zu überwinden: So passiert es das kleine Becken der Mutter, sein Kinn instinktiv an die Brust gepresst. Dann muss es sich um 90 Grad drehen und am Schambein vorbei – was nur mit überstrecktem Hals klappt. Gut, dass die Schädelplatten des Ungeborenen noch nicht miteinander verwachsen sind, denn so kann sich das Köpfchen im engen Geburtskanal verformen. Wie das aussieht, hat ein französisches Forschenden-Team mit Hilfe von Magnetresonanztomografie beobachtet und so diese 3D-Scans erstellt.

Auf dem Weg nach draußen kommt es zur wichtigen Mikrobiomübertragung zwischen Mutter und Kind. Alleine in der Vagina befinden sich 400 verschiedene Mikrobenstämme, die das Kind mit seinen Körperöffnungen aufnimmt. Das ist die Basis für den Aufbau eines eigenen, vielfältigen Mikrobioms und eines fitten Immunsystems. Eine britische Studie untersuchte Stuhlproben von 600 Neugeborenen, wovon die Hälfte per Kaiserschnitt zur Welt kam. Ergebnis: Das Mikrobiom der Kaiserschnitt-Babys wies deutlich weniger verschiedene Stämme auf, was sie statistisch anfälliger für Erkrankungen der Atemwege oder Allergien macht.

Als drittes beginnt die Pressphase. Dabei unterstützt die Mutter die Wehen durch aktives Pressen. Ausgelöst wird dieser Ferguson-Reflex durch den Druck des Kindskopfs auf das Nervengeflecht am Steißbein, wobei der «Nervus pudendus» stimuliert wird. Der Kopf tritt durch den Damm, danach eine Schulter und dann die zweite, bis der restliche kleine Körper folgt.

Ist der Kraftakt geschafft, folgt die vierte Phase, die Nachgeburtsperiode: nach etwa 30 Minuten kommt es zur Geburt der Plazenta. Die Plazenta wird auf Vollständigkeit untersucht und Reste gegebenenfalls aus der Gebärmutter entfernt, danach werden etwaige Geburtsverletzungen wie Dammrisse genäht.

5. Starker Anstieg der Kaiserschnittrate

In Deutschland hat sich die Rate der Kaiserschnitte seit 1991 verdoppelt. Im Jahr 2020 hat dort jede dritte Frau per Kaiserschnitt entbunden. Auch in der Schweiz kommen mit 32,3 Prozent im europäischen Durchschnitt relativ viele Kinder per Kaiserschnitt auf die Welt. Das ist weitaus mehr, als die WHO medizinisch für notwendig hält: Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt eine Rate zwischen 10 und 15 Prozent. Laut dieser Studie hat das Gebärumfeld einen Effekt auf den Geburtsmodus – sogenannte «alternativ ausgestattete Gebärraume» könnten die Zahl der Kaiserschnitte wohl senken.

Gründe für die Zunahme sind vielfältig. In der Schweiz werden die meisten Kaiserschnitte bei Beckenendlage durchgeführt – also wenn das Kind mit dem Gesäß voran im Becken der Mutter liegt. Laut einer österreichisch-italienischen Studie nimmt aber auch die Größe des Babys im Verhältnis zur Mutter stark zu, was vermehrt zu Komplikationen und notwendigen Kaiserschnitten führt.

6. Bis zu 68 Prozent weltweit: Viele Frauen erleiden ein Geburtstrauma

Die Geburt eines Kindes ist ein einschneidendes Erlebnis im Leben einer Frau. Die Hormonkomposition der Mutter kalibriert sich währenddessen und danach völlig neu – auch das Gehirn verändert sich dadurch.

Viele erleben die Geburt nicht nur als einschneidend, sondern als regelrecht überwältigend oder sogar traumatisch. Heftige Schmerzen, ungewollte geburtshilfliche Interventionen (Dammschnitt, Muttermundaufdehnung) oder die Sorge um das Wohlergehen des Kindes: Oft erleben Frauen während der Geburt Hilfslosigkeit und ein Gefühl des Ausgeliefertseins.

Je nach Land leiden zwischen 20 und 68 Prozent aller Frauen. weltweit an einem Geburtstrauma. Psychische Belastungen sind häufige Folgen davon. Das Schweizer Netzwerk Verarbeitung Geburt liefert wichtige Adressen spezialisierter Einrichtungen, die bei der Verarbeitung von Geburtserlebnissen professionell unterstützen.

7. Orgasmus während der Geburt: Selten, aber möglich

Nicht für alle Frauen ist die Geburt traumatisch. Oft ist sie der magische Moment, in dem man sein Kind endlich kennenlernt – und für manche Frauen endet die Geburt sogar ekstatisch. Zur sogenannten Orgasmus-Geburt kommt es den wenigen verfügbaren Untersuchungen zufolge allerdings bei nur rund 0,3 Prozent der vaginalen Geburten (zumindest in den USA).

Ein besonders lustvolles Erleben der Geburt bis hin zum Orgasmus kommt selten vor, weil im Kreißsaal vor allem der Schmerz überhandnimmt und du wenig Privatsphäre hast. Aber: Unmöglich ist es nicht. Einerseits weil bei einer Geburt dieselben Körperteile beteiligt sind, wie beim Sex. Andererseits weil dabei dieselben Hormone ausgeschüttet werden, zum Beispiel Oxytocin, wie bei einem Orgasmus.

Ob eine Frau einen Orgasmus bei der Geburt erleben kannt, hängt jedoch von vielen Faktoren ab, etwa der individuellen Schmerztoleranz oder der Anatomie. Doch der Versuch, die Geburt zumindest lustvoller und nicht nur als schmerzhaft zu erleben – selbst wenn sie nicht im Orgasmus endet – gibt Frauen einer kanadischen Studie zufolge mehr Gefühl von Selbstbestimmung und Kontrolle und reduziert so das Risiko eines Geburtstraumas.

Titelbild: shutterstock

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Olivia Leimpeters-Leth
Autorin von customize mediahouse

Ich liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ich glaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party. 


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