
Ratgeber
Dem Laufen auf der Spur: Tag eins in der Fussschule
von Michael Restin
An der aktuellen Version des Minimal-Treters von Merrell haben sich die Entwickler ordentlich zu schaffen gemacht. Der jüngste Spross der Produktfamilie hebt sich vom Vorgänger ab, sieht gut aus und trägt sich auch so. Nur an einer Stelle könnte bei Puristen der Schuh drücken.
Kann man bei so wenig Schuh wirklich viel verändern? Das ist die Preisfrage, mit der ich in den Vapor Glove 5 schlüpfe. Einen Barfusslaufschuh, dünn wie ein Handschuh, der etwas Schutz, Halt und Grip bieten soll. Ansonsten vor allem: Freiheit. Genau wie der Vapor Glove 4, 3, 2 und 1. Freiheit für Zehen, Fussgewölbe, Muskeln, Sehnen und Schmerzrezeptoren, die spitze Steinchen sofort ans Hirn melden. Die gute Nachricht ist, dass du lernen kannst, komfortabel darin zu laufen. Die schlechte Nachricht ist, dass du es tun musst, wenn du längere Strecken darin zurücklegen willst. Ohne fitte Füsse wird es in Barfussschuhen schnell schmerzhaft.
Für mich ist der direkte Bodenkontakt zu einem Bedürfnis geworden. Dicke Sohlen stören mich meistens, seit ein paar Jahren bin ich 90 Prozent der Zeit auf wenigen Millimetern Kunststoff unterwegs. Das fühlt sich gut an. So eine Flunder am Fuss sieht aber nicht immer gut aus. Wenn ich mit dem Vapor Glove 4 Probleme hatte, dann hauptsächlich mit der Optik. Das liegt vor allem an der wulstigen Zehenkappe, die so stilvoll wirkt, wie frisch gespritzte Schlauchboot-Lippen aus der Schönheitschirurgie. Klar, sie ist funktional und schützt vor Stössen, ich war mehr als einmal froh darüber. Aber ich bin auch froh darüber, dass sie beim Vapor Glove 5 subtiler daherkommt. Er orientiert sich eher wieder an früheren Generationen des Schuhs. Generell empfinde ich die Optik als Upgrade, äusserlich hat der Neue auf Anhieb meine Sympathie.
Beide Modelle haben eine Sohlengesamthöhe von 6,5 Millimetern, die vorne wie hinten gleich ist. Diese sogenannte Nullstellung ist bei Barfussschuhen Pflicht und auch ein Fussbett suchst du natürlich vergeblich. Von besagten 6,5 Millimetern gehen zwei fürs Profil drauf, 1,5 fürs Gewebe und komfortable drei für die Innensohle. Die ärgert mich beim Vapor Glove 4 etwas, weil sie, zumindest bei meinem Modell, im rechten und linken Schuh ungleich vernäht und auch durch Socken immer leicht zu spüren ist. Erleichtert stelle ich fest, dass das beim Nachfolger besser passt und nichts mehr drückt.
Beim Tragekonzept trennen sich die Wege. Während Nr. 4 klassisch auf Zunge und Schnürung setzt, will Nr. 5 noch mehr Glove sein und mit dem Einschlupfsocken glänzen. Geschnürt wird darüber natürlich trotzdem. Auch dabei gefällt mir vor allem die Optik besser. Anziehen lassen sich beide leicht, da sich – Vorteil Barfussschuh – die weiche Sohle an der Ferse einfach nach unten klappen und über den Fuss stülpen lässt. Anders als bei Version 4 laufe ich beim aktuellen Modell nicht mehr Gefahr, dabei die Zunge in den Schuh zu knautschen.
Dafür kann es sein, dass der Innenschuh Falten wirft, wenn dein Fuss nicht sehr breit ist und du die Schnürung festziehst. Was diese angeht, treten das Modell Spaghetti (rund, Vapor Glove 5) und das Modell Tagliatelle (platt, Vapor Glove 4) gegeneinander an. Funktionell habe ich keinen Favoriten. Ich binde sie einmal, würge mich fortan irgendwie in den Schuh und hoffe, dass ich sie möglichst selten anrühren muss. Dafür lassen sie sich als Beispiel für den gestiegenen Recyclinganteil heranziehen: Beim aktuellen Modell sind die Materialien für die Schnürsenkel komplett wiederverwertet. Mesh-Obermaterial (40 %) und Sohle (30 %) sind zumindest auf dem richtigen Weg.
Untenrum hat sich richtig was getan. Zwar sind Sohlendicke sowie Profiltiefe gleich geblieben und es handelt sich jeweils um Gummimischungen von Vibram. Ansonsten sind keinerlei Ähnlichkeiten zu erkennen. Während es Version 4 mit einem gröberen Dreiecksprofil versucht, das im Mittelfussbereich langsam in grosse Rauten übergeht, ist Nr. 5 mit einem homogenen Muster ausgestattet, das fast schon ans Rillenprofil eines Hallenschuhs erinnert.
Spontan kommen mir Sohle und Schuh etwas härter vor als beim Vorgänger, was ein Stück weit daran liegen kann, dass dieser mittlerweile ziemlich ausgelatscht ist. Ich bin damit ein gutes Jahr lang auf Asphalt und leichten Trails gelaufen. Dadurch ist im Bereich des Fussballens jedes Profil verschwunden und ich habe Hoffnung, dass das kleinteilige Profil des Nachfolgers etwas widerstandsfähiger ist. Noch ist es relativ neu und quietschvergnügt – sogar auf dem Trottoir macht es bei kurzen Rutschern laute Geräusche.
Insgesamt vermittelt die Sohle, wie der gesamte Schuh, einen etwas robusteren Eindruck und es ist eine Frage des persönlichen Geschmacks, ob du das als besser oder schlechter empfindest. An einer Stelle verzichtet der Neue allerdings auf maximale Robustheit; die hochgezogene Fersenkappe des Vorgängers ist verschwunden und ich vermisse sie nicht. Wer annähernd barfuss rennen geht, rollt selten über die Ferse ab.
Weg mit der Gummiwulst, mögen sich die Entwickler gedacht haben. Eine Idee, die ich sehr begrüsse. Der Ansatz, den Zehenschutz ohne Erhebung ins Aussenmaterial zu integrieren, ist auf den ersten Blick eindeutig ein Gewinn. Noch dazu mildert er versehentliche Stösse an Wurzeln oder Stufen genauso stark ab und zieht sich etwas weiter nach hinten über die Grosszehe.
Weniger ist in diesem Fall von aussen betrachtet mehr, der Vapor Glove 5 hat eine klare Form und fällt nicht ganz so sehr aus dem Rahmen. Im Inneren ist weniger dagegen etwas weniger: Die Zehenbox fühlt sich nicht mehr ganz so geräumig an, nach oben und zu den Seiten kann ich etwas weniger wackeln. Da hört für Barfuss-Puristen der Spass natürlich auf.
Ich trage beide Modelle in Grösse 44,5 und nur bei Version 5 frage ich mich gelegentlich, ob eine halbe Nummer grösser noch angenehmer wäre. Dann verwerfe ich den Gedanken wieder, denn um genug Halt zu haben, muss ich die Schnürung jetzt schon so eng ziehen, dass im Stoff über dem Fussrücken Falten entstehen. Das sind alles Kleinigkeiten, die je nach Anatomie mehr oder weniger ins Gewicht fallen können. Was das Freiheitsgefühl angeht, liegt für mich der Vapor Glove 4 eine Zehennagelbreite vorn. Darin spüre ich zum Beispiel keinerlei Widerstand, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, der Schuh klappt quasi schon von selber um, wenn er ausgezogen auf dem Boden steht.
Das liegt teilweise sicherlich daran, dass er ein- bis ausgelaufen ist. Es spielen aber auch der Stoff und die seitlichen Verstärkungen eine Rolle, die sich eben vor allem an der Grosszehe beim Vapor Glove 5 weiter nach hinten ziehen. Dort, wo der Schuh bei jedem Schritt nachgeben muss und das Material strapaziert wird, zeigen sich bei beiden Varianten noch keine Verschleisserscheinungen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Beide Modelle sind extrem dünn, bieten viel Freiheit und sind als Schuh kaum zu spüren. Sie sind ein ganzes Stück vom Trail Glove 6 entfernt, der deutlich mehr Support und weniger Freiheitsgefühl bietet, weshalb ich ihn für Läufe in unwegsamerem Gelände erst nach und nach zu schätzen gelernt habe.
Die Unterschiede zwischen Vapor Glove 4 und 5 sind optisch gross und sehr fein, was das Tragegefühl betrifft. Der neue bringt in meiner Grösse mit 180 Gramm gut zehn Gramm mehr auf die Waage als sein abgelaufener Vorgänger. und vielleicht ist exakt das der Unterschied. Dass sie überhaupt ins Gewicht fallen, zeigt, wie leicht und wie nah beieinander diese beiden Modelle sind.
Version 4 fühlt sich für mich inzwischen wie eine zweite Haut an. Version 5 noch nach superleichtem Schuh, den ich von Tag zu Tag etwas weniger spüre. Beide Modelle aus der Vapor-Glove-Familie kann ich fast uneingeschränkt empfehlen, wenn dein Fuss für die Belastung bereit ist. Für einen relativ kleinen Preis bekommst du so wenig Schuh wie möglich, was in diesem Fall als Lob zu gelten hat. Der Neue sieht in meinen Augen besser aus und auch das feinere Sohlenprofil, das sich eher wieder am Vapor Glove 3 orientiert, finde ich sinnvoll. Es bietet auch in leichtem Gelände genug Grip und ich habe Hoffnung, dass es sich nicht ganz so schnell verabschiedet, wie es beim Vapor Glove 4 der Fall war.
Wenn ich ein gröberes Profil und etwas mehr Schutz brauche, greife ich zum Trail Glove 6. Ansonsten spricht es für sich, dass die Modellfamilie weiter wächst und sich entwickelt. Der Vapor Glove 5 und 4 mögen auf den ersten Blick ungleiche Barfuss-Brüder sein. Sie haben ihre Ecken und Kanten, es gibt leichte Unterschiede in Form und Tragegefühl. Der Neue scheint mir etwas robuster und im Zehenbereich enger zu sein. Trotzdem ist jederzeit spürbar, dass sie die gleichen Gene haben.
Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.