
Hintergrund
«Ich habe gelernt, dass sich Laufen richtig toll anfühlen kann»
von Michael Restin
Ein minimalistischer Schuh ist leicht und hat es schwer. Bietet er mehr als fast nichts, kann ihm das negativ ausgelegt werden. Im Merrell Trail Glove 6 steht «barefoot», aber das ist nicht die nackte Wahrheit.
Schuhe sind immer ein Kompromiss, der zur Person und zur Situation passen muss. Wie stark sie schützen, dämpfen oder stabilisieren, beeinflusst dich bei jedem Schritt. Ich mag es, minimalistisch unterwegs zu sein. Deshalb lasse ich all die Wolken-, Luft- und Wabensysteme, die butterweiches Abrollen versprechen, links liegen. Mich ziehen Schuhe an, die ein wenig schützen und ansonsten Barfussgefühl versprechen.
Mit fast nichts an den Füssen wird der Untergrund interessant. Ich muss selbst aufpassen – und meinen Laufstil entsprechend anpassen. Das geht gut, solange der Boden nicht zu steinig ist. Dann ist etwas mehr Schutz nötig. Dafür steht der Merrell Trail Glove 6 mit seinem Namen: Er soll in inzwischen sechster Generation ein dünner Schuh fürs leichte Gelände sein. Mit ihm an den Füssen habe ich zuletzt meine Laufrunden gedreht und Schritt für Schritt besser verstanden, wer oder was er sein will.
Frisch aus dem Karton irritiert mich der Trail Glove. Innen steht «barefoot», aussen spricht die 11,5 Millimeter dicke Vibram-Sohle eine andere Designsprache. Sie dämpft zwar kaum und hat keine Sprengung, ist also vorne wie hinten gleich hoch. Doch speziell am Mittelfuss ist sie weit nach oben gezogen und deutet eine Gewölbeunterstützung an, die in reinen Barfussschuhen nicht so ausgeprägt vorkommt. Darin soll der Fuss stehen, wie auf dem Boden: hart und eben. Das löst der Trail Glove 6 nur teilweise ein. Ausserdem sind Bewegungsfreiheit für die Zehen und eine in alle Richtungen sehr flexible Sohle wichtig. Auch in diesem Punkt macht der Trail Glove Kompromisse. Um hart im Nehmen zu sein, ist er vergleichsweise störrisch.
Natürlich gibt es Gründe dafür. Er will im Gelände funktionieren und mit seiner TC5+-Sohle «aussergewöhnliche Traktion für Multisportaktivitäten im Freien» bieten. Doch wie ich ihn drehe und wende – ich habe weniger Schuh erwartet, als ich in den Händen halte. Einen Barfussschuh, den ich als solchen bezeichnen würde, kann ich nicht erkennen. Das ist meine Sicht der Dinge. Wo die Grenze zwischen barfuss und minimal oder zwischen minimal und normal verläuft, ist nirgends verbindlich definiert. Fest steht nur: Wenn es über Steine und Wurzeln geht, braucht der Fuss einen gewissen Schutz. Je nachdem, wonach du suchst und wie dünn du es magst, wird dir der Ansatz von Merrell mehr oder weniger zusagen.
An ultradünnen Sohlen liebe ich nicht nur das Laufgefühl. Die Flexibilität hilft auch, mit einem Handgriff in den Schuh schlüpfen zu können. Der Trail Glove 6 leistet etwas mehr Widerstand, und ich vermisse eine Lasche an der Ferse als Einstiegshilfe. Dafür mag ich das Schnürsystem – was selten genug vorkommt. Zum einen ist die Zunge mit Gummizügen an der Innenseite befestigt, zum anderen an der Oberseite mit einer Lasche fixiert. Diese nimmt an den Seiten die Schnürung auf und hält, was sie verspricht. Die Konstruktion ist stabil und flexibel zugleich, lässt sich unkompliziert weiten und sicher festziehen. Am Ende ist mein Fuss gut fixiert, ohne sich stellenweise eingeschnürt zu fühlen. So gefällt mir das.
Auch der Zehenraum bietet mir genug Platz, obwohl er für einen Schuh, der Barfuss-Feeling verbreiten will, schmal ausfällt. Das Innenmaterial ist angenehm weich, selbst ohne Socken reibt nichts. Nur die kleine Erhebung im Mittelfussbereich stört mich, auf diese Stütze hätte ich gerne verzichtet. Da ich sonst keine Beschwerden habe, ist sie anfangs bei jedem Schritt präsent und fühlt sich wie ein Berg an. Im Laufe der Zeit schrumpft sie in meiner Wahrnehmung zusammen. Ich gewöhne mich daran, ohne sie zu mögen. Mit dieser Ausnahme passt mir der Trail Glove 6 in meiner Standardgrösse wie angegossen. Nun kommt es darauf an, was die Sohle im Gelände kann.
Ich bin erstmal laufen gegangen und ins Stolpern gekommen. Faszinierend, wie schwer sich so ein immer noch sehr leichter Schuh (in Grösse 44.5 wiegt meiner 247 Gramm) anfühlen kann, wenn man wie ich von noch leichteren Tretern umsteigt. Aber das legt sich. Und dann ist der Trail Glove ein Schuh, der relativ viel verzeiht. Fersen und Zehen sind geschützt. Die Bodenbeschaffenheit lässt sich durch seine Sohle nur noch ansatzweise erahnen, doch das Gefühl für den Untergrund verschwindet auch nicht komplett. Ein überraschend spitzer Stein, der für mich bislang Schmerz bedeutet hat, ist nun nur noch eine dumpfe Erinnerung daran, dass ich nicht auf Asphalt laufe. Dafür sorgt unter anderem die schützende «Rock Plate», womit eine stabile Platte im Vorfussbereich gemeint ist.
Die flache Konstruktion verleiht Trittsicherheit. Je flexibler und bodennäher du unterwegs bist, desto geringer ist die Gefahr, böse umzuknicken. Auch ins Rutschen komme ich nicht, die Sohle mit ihrem drei Millimeter tiefen Profil sorgt für guten Grip. Der Schuh macht also seinen Job. Verglichen mit meinem alten Trailschuh von Vivobarefoot, schluckt er einfach etwas mehr Gefühl fürs Gelände weg. In vielen Situationen ist er mir einen Tick zu stabil, auch wenn er im Laufe der Zeit gefühlt etwas flexibler geworden ist. Im Grunde haben wir uns aneinander gewöhnt, der Trail Glove 6 und ich.
Das Fussklima unter dem Mesh-Material ist angenehm und er fällt auch als Alltagsschuh nicht negativ auf. Weder optisch noch ökologisch: Die Materialien sind mal zu 40 Prozent (Innenfutter), mal zu 100 Prozent (Schnürsenkel) recycelt oder bestehen, wie die Zwischensohle, teilweise aus wiederaufbereiteten Algen. Das sind alles kleine Schritte in die richtige Richtung. Ansonsten hängt die Bewertung davon ab, welchen Weg du einschlagen willst: Wenn du etwas mehr als einen Minimalschuh suchst, ist der Trail Glove 6 interessant.
Mit dem Schuh bin ich einverstanden, nur mit dem «barefoot»-Label nicht. Der Trail Glove 6 ist für einen Barfuss- oder Minimalschuh etwas zu stabil gebaut, etwas zu schmal geschnitten und bietet etwas zu viel Unterstützung. Nur auf eine Dämpfung verzichtet er. Das stört Typen wie mich, die noch weniger erwartet haben. Oder Menschen, die seine Verwandtschaft besser kennen, und den Trail Glove 1, 2, 3, 4 oder 5 gelungener fanden.
Laut Merrell zeichnet sich die aktuelle Generation durch höhere Abriebfestigkeit und eine «verbesserte Passform» aus, was derart verallgemeinert eine verwegene Aussage ist. Wenn du breite Füsse hast, würde ich dir den Trail Glove 6 nicht empfehlen. Auch wenn du jedes Steinchen spüren willst, wirst du mit diesem Modell nicht glücklich. Er ist ein Zwischending. Das muss wohl so sein, wenn der Spagat zwischen Barfuss- und Trailschuh gelingen soll. Damit ist er perfekt für Zwischenschritte. Weil er sich zwischen Waldweg und holprigem Trail bewährt, wo er dir gelegentliche Fehltritte verzeiht. Weil er optisch zwischen Sport- und Freizeitschuh angesiedelt ist. Und weil du dir darin überlegen kannst, ob du langfristig auf «echte» Minimalschuhe umstellen willst.
Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.