
Hintergrund
Ist weniger Schuh mehr? Schritt für Schritt ins Barfussleben
von Michael Restin
Nicht weniger als die pure Freiheit verspricht der «Pure Freedom» von Meindl. Das stimmt aus Sicht des passionierten Barfussgängers nicht. Der minimalistische Schuh ist ein tolles Gefängnis für schlanke Füsse.
«Richtige» Schuhe habe ich mir diesen Sommer weitestgehend abgewöhnt. Wann immer es geht, bin ich barfuss unterwegs oder streife meine Skinners über. Warum? Weil ich es kann. Selten herrschte so wenig Konformitätszwang, was die Kleiderordnung angeht. Das ist befreiend, aber natürlich nicht der Hauptgrund. Ich laufe barfuss oder in Minimalschuhen, weil es mir guttut. Und inzwischen bin ich gut darin.
Zumindest habe ich kein Problem mehr damit, auf Dämpfung und ein Fussbett zu verzichten. Deshalb schlage ich zu, als ich den «Pure Freedom» von Meindl zum Testen angeboten bekomme. Einen Schuh, der seinem Namen erst auf den zweiten Blick Ehre macht. Auf den ersten frage ich mich: Wie beengt kann die grosse Freiheit sein?
So schmal wie er aussieht, ist der Schuh auch. Verglichen mit meinem Modell von Vivobarefoot, in dem die Zehen viel Platz zum Spielen haben, sitzt der «Pure Freedom» straff. Wenn du die für Barfussschuhe typische breite Zehenbox mit maximaler Bewegungsfreiheit suchst, kannst du hier aufhören zu lesen. Der enge Meindl will gar kein Barfussschuh sein. Er hat andere Qualitäten. Holen wir den Treter aus dem Sack.
Das «knit mesh» genannte Obermaterial ist dünn und elastisch, lediglich im Zehen- und Fersenbereich ist der Schuh dezent verstärkt. Mit Hilfe der Fersenlasche ist er schnell angezogen und schmiegt sich wie ein Kompressionssocken um den Fuss. Übers Schnellschnürsystem kannst du ihn zusätzlich fixieren und für sehr festen Halt sorgen, was bei mir gar nicht mehr nötig ist. Die grosse Lasche des Schnürsystems dient ausserdem dazu, den Schuh zusammengerollt zu fixieren und im mitgelieferten Packsack zu verstauen.
Ist der Schuh am Fuss, steht diese Lasche wie eine Antenne ab, sofern ich sie nicht unter der Schnürung verstecke. Dann reicht sie mir fast bis zu den Zehen und verschandelt ein wenig die Optik. Wirklich sehen lassen kann sich die Litebase-Sohle von Vibram, die extrem flexibel ist. Auf ihre Eigenschaften gehe ich später ein. Zunächst noch ein Blick in den Schuh: Kein Fussbett zu entdecken. Dafür eine dicke Naht, die den Konturen der Sohle folgt. Das Gewicht gibt der Hersteller mit 135 Gramm an, was vielleicht für die kleinste Grösse stimmen mag. Mein Schuh in Grösse 44 wiegt 168 Gramm und ist top verarbeitet.
Ohne Socken am Fuss macht der Pure Freedom eine gute Figur. Schlank, schwarz, unauffällig. Minimalistisch. Ich bin aus zwei Gründen dazu übergegangen, ihn trotzdem nur mit Socken zu tragen. Zum einen stört mich die umlaufende Naht, die ich an den nackten Füssen deutlich spüre. Zum anderen scheuert es mir auf Höhe der Achillessehne, wo die Fersenlasche vernäht ist, die Haut ab. Komischerweise nur am linken Fuss, obwohl ich keinen Unterschied oder Fehler in der Verarbeitung feststellen kann.
Es mag an meinem Laufstil liegen. Jedenfalls beseitigen Socken beide Probleme und trotzdem kommt etwas Barfuss-Feeling auf. Durch die Nullstellung der Sohle, die keine spürbare Erhöhung hat. Durch die Flexibilität und das gute Feedback. Steine und Wurzeln sind wahrnehmbar, ohne zu schmerzen. Im Vergleich zu den Skinners ist die Vibram-Sohle ein dickes Ding und dämpft ein wenig. Je nach Messversuch kam ich auf 0.8, 0.6 oder einen Zentimeter – ich kann es nicht genau sagen. Und mir ist es auch egal, solange ihre Eigenschaften überzeugen.
Meindl bewirbt den Pure Freedom als Allrounder in allen Lebenslagen. Ob als Zweitschuh auf der Hüttentour, beim Biken, in der Stadt oder beim Wassersport. Einer für alles. Für mich ist er für alle Fälle zur ersten Wahl geworden, in denen die Skinners doch etwas zu wenig sind. Beeindruckt hat er mich in den Bergen. Eigentlich hatte ich vor, für eine kleine, aber steile Wanderung mal wieder in leichte Stiefel zu steigen. Nach fünf Minuten hatte ich die Schnauze voll.
Lieber im Minimalschuh ausrutschen, als zu schwitzen und kein Gefühl für den Untergrund zu haben. So dachte ich, denn die Böden waren aufgeweicht und das Profil des Pure Freedom versprach nicht den allerbesten Halt. Vibram-Sohle hin oder her. Fehleinschätzung meinerseits. Ich war mindestens so sicher wie meine Mitläufer unterwegs. Ohne Matschklumpen an den Sohlen. Dafür mit viel Grip und Spass, weil der Fuss den Boden sehr gut ertasten und den nächsten Schritt einschätzen kann. Vibram verspricht bei der Litebase-Technologie die übliche Traktion und Abriebfestigkeit trotz bis zu 50 Prozent geringerer Dicke und bis zu 30 Prozent weniger Gewicht. Wie auch immer das gehen mag – mich überzeugt das Resultat.
Als Zweitschuh auf einer Bergtour sind die leichten Meindl ein guter Begleiter. Viel Schuh, wenig Gewicht – diese Rechnung geht auf und du bekommst bei Feuchtigkeit trotz «knit mesh» nicht sofort nasse Füsse. Natürlich bietet derart reduziertes Schuhwerk weniger Schutz. Wer sich ans Gehen darin gewöhnt hat, verzichtet jedoch gerne und die Gefahr des Umknickens ist bei dünnen und flexiblen Sohlen gering.
Für mich ist der «Pure Freedom» ein toller Schuh, der schlicht und einfach den falschen Namen hat. Statt Freiheit vermittelt er mir das Gefühl, trotz wenig Material am Fuss gut geschützt unterwegs zu sein. Die Verarbeitung ist gut, der Schnitt eher schmal. Wer breite Füsse hat, wird mit diesem Modell wahrscheinlich nicht glücklich. Ich hätte ihn lieber eine halbe Nummer grösser nehmen sollen, in meiner gewohnten Grösse sitzt er knapp. Davon abgesehen ist er ein guter Kompromiss für alle, die es minimalistisch mögen und ein wenig Barfuss-Feeling in den Herbst retten wollen.
Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.