
Ratgeber
Zu Besuch bei einer Sexologin
von Natalie Hemengül
Hilfe, Lebenskrise! Auf der Torte brennen dreissig Kerzen und ich habe bloss einen Wunsch: Wissen, was ich vom Leben will. Nur, weshalb erscheinen mir die Dinge mit 30 plötzlich so viel komplizierter? Ein Gespräch mit der Expertin über das Dilemma, wenn alles kann, aber nichts muss.
Dreissig. Da steh ich nun, irgendwo zwischen «Blutjung, du hast ja noch dein ganzes Leben vor dir!» und «Na, wie steht's um Hochzeit und Nachwuchs? Die Uhr tickt.» Und wie sie tickt. Laut und unerbittlich. Zusammen mit den Stimmen und Fragen in und um meinen Kopf herum verkommt das Metronom zu einer disharmonischen Geräuschkulisse, die an eine gescheiterte Orchesterprobe erinnert. Vom Dirigenten keine Spur. Dafür pfeift die Blockflöte aus dem falschen Loch und irgendwo hinten im Saal fallen die Drumsticks zu Boden. Jeder ist taktlos. Und ich? Ich suche nach einer Melodie.
So wie mir ergehe es vielen Frauen in den Dreissigern, versichert mir Dania Schiftan. In ihrer Tätigkeit als Psychotherapeutin begleitet sie Frauen bei der Suche nach den Antworten auf die grossen Fragen im Leben.
Dania, ich bin vor wenigen Tagen dreissig geworden. Meine Gefühle und Gedanken fahren Karussell. Ich stelle mir Zukunftsfragen, die jahrelang irrelevant schienen und plötzlich kann es mir mit den Antworten nicht schnell genug gehen: Was passiert hier mit mir?
Dania Schiftan: Du bist in einem Alter, in dem du wahrscheinlich viele wichtige Lebensabschnitte bereits erleben durftest: eine Form der Ausbildung, ein paar Jahre bei der gleichen Firma, die erste Beziehung, eine eigene Wohnung und so weiter. Hinzu kommt ein sich veränderndes Umfeld, zum Beispiel wenn zwei von drei Freundinnen heiraten oder ein Kind erwarten. Dadurch kommen schubartig ganz viele Fragen zusammen, die du dir so zuvor noch nicht gestellt hast. Und eine davon lautet: Was jetzt?
Ja, was jetzt?
Das Verzwickte an der Situation ist, dass dir theoretisch alle Optionen offen stehen, gleichzeitig aber vieles zu einem gewissen Grad bereits vordefiniert ist. Zum Beispiel durch die Ausbildung. Die meisten geniessen in dieser Phase ihren Lebensstandard und möchten deshalb nicht unbedingt ein neues Studium oder eine neue Lehre anfangen, bloss weil sie Lust auf etwas Neues haben. Dann heisst es eher: Was will ich und was mach ich jetzt aus dem, was ich habe?
Dass die Karriere- und Familienplanung einen beschäftigen, erscheint mir naheliegend. Gibt es noch andere Themen, über die Frauen in den Dreissigern häufiger mit dir in der Psychotherapie sprechen wollen?
Jede Frau hat natürlich eine andere Vor- und Entwicklungsgeschichte. Aber Herausforderungen, denen sich meine Patientinnen oft stellen, betreffen die Sinnhaftigkeit des Lebens, die eigene Attraktivität und den sich verändernden Körper. Auch Freundschaften, die unter Zeitmangel leiden und Anpassungen in der Freizeitgestaltung bedingt durch eine Partnerschaft sind Themen. Ebenso die Finanzplanung. Frauen haben ein eigenes, unabhängiges finanzielles Bewusstsein, das sich von dem unserer Mütter oder Grossmütter unterscheidet, weil es nicht an den Partner gekoppelt ist. Im Kontext der Familienplanung rutschen einige aber in traditionelle Muster rein und finden sich wieder in einem Abhängigkeitsverhältnis mit dem Partner, das ihnen zu schaffen macht.
Wie gehe ich mit solchen Stressfaktoren und der inneren Unruhe am besten um?
In dieser Lebensphase verspüren Menschen oft eine Unzufriedenheit oder Unsicherheit und glauben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Dabei ist dieser Prozess völlig natürlich. Am besten hörst du in dich hinein und hältst fest, welche Fragen überhaupt im Raum stehen. Danach kannst du anfangen, diese in zwei Kategorien einzuteilen: Einmal in «echte» Fragen, also solche, die für dich wirklich relevant sind und in Fragen, die sozial bedingt aufkommen, weil «man ja in dem Alter» ist, in dem man diese und jene Entscheidungen treffen sollte.
Zum Beispiel heiraten und Kinder kriegen?
Genau. Frauen um die 30 sehen sich mit der abnehmenden Fruchtbarkeit konfrontiert. Von ihnen wird oft erwartet, dass sie sich positionieren und wissen, wo sie stehen.
Ich muss zugeben, es ist schon ein mulmiges Gefühl zu wissen, dass ich nur eine begrenzte Anzahl Eizellen besitze, während Männer bis ins hohe Alter noch Spermien produzieren können…
Das Familienthema ist definitiv eines der schwierigsten Entscheidungspunkte. Besonders dann, wenn du dir über deine Zukunft im Unklaren bist und nicht weisst, ob du mal Mutter werden willst oder nicht. Ist dir hingegen klar, was du möchtest, erlebst du die Phase in den 30ern häufig einfacher. Hinzu kommt, dass es gesellschaftlich gesehen für Frauen immer noch schwieriger ist, so zu fühlen.
Ich persönlich finde es bei diesem Thema besonders schwierig, die Stimmen um mich herum auszublenden. Dadurch habe ich das Gefühl, meine eigene nicht mehr zu hören.
Das liegt daran, dass wir uns an unserem Umfeld messen: Nach welchen Normen und Werte leben sie? Bis zu einem gewissen Grad ist das völlig normal, da wir in einer Gemeinschaft leben und dazugehören möchten. Bist du dir aber noch unsicher, kann das Druck ausüben und verunsichern. Genauso wie Freundinnen, die ihre Antworten bereits gefunden haben und genau wissen, was sie möchten. Du fragst dich: Was ist mit mir falsch, wieso ist das bei mir anders?
Bedeutet das, dass meine Freundinnen in solchen Belangen nicht die idealen Gesprächspartnerinnen sind?
Das kommt auf die Gesprächskultur zwischen euch an. Wenn deine Freundinnen sich wertfrei auf so ein Gespräch einlassen können, an dir interessiert sind und dir dabei helfen, deine Stimme zu hören, dann spricht nichts dagegen. Wenn deine Freundinnen hingegen die Tendenz haben, ihre Entscheidungen zu beschützen respektive argumentativ zu verteidigen, ist es hilfreicher, sich professionelle Unterstützung von jemandem zu holen, der eine offene Haltung hat und einen durch den Entscheidungsprozess geleitet.
Wie gehe ich beim Entscheidungsfindungsprozess vor?
Dass eine Frau Kinder will oder haben wird, ist nicht so sicher wie das Amen in der Kirche. Der erste Schritt besteht also darin, dir einzugestehen, dass du noch unsicher bist. Um zu einer Entscheidung zu gelangen, müssen sich Frauen die Zeit geben und nehmen. Oft hilft es, in der Agenda gewisse Termine festzulegen, an denen du dich aktiv damit auseinandersetzt. Ich habe auch Patientinnen, die sich die Eizellen einfrieren lassen, um Zeit zu gewinnen. Einige tun dies auch, weil es für sie schlichtweg noch zu früh ist, sich Gedanken über die Familienplanung zu machen, wissend, dass sich die Frage in den nächsten fünf Jahren von selbst klärt.
Und was ist, wenn sich die Frage nicht einfach klärt?
Mit diesem Gedanken setzen sich Frauen dermassen unter Druck. Viele haben solch eine Angst, in ein paar Jahren nicht mehr fruchtbar genug zu sein, dass sie die Zeit, die ihnen noch bleibt, gar nicht richtig nutzen können. Wer ständig daran denkt, bald eine Entscheidung treffen zu müssen, blockiert sich selbst.
Einige würden argumentieren, dass Unentschiedenheit auch eine Entscheidung ist, nämlich eine gegen Kinder.
So einfach ist das nicht. Die Antwort auf diese Frage fällt von Person zu Person anders aus. In uns Menschen stecken verschiedene Anteile. Ein Anteil zum Beispiel ist noch Kind, ein anderer Anteil ist verletzt und so weiter. Die meisten von uns tragen eine kleine Armee an solchen Fragmenten in sich. Und diese Anteile haben unterschiedliche Bedürfnisse und arbeiten deshalb oft gegeneinander. Der selbstbewusste, erwachsene Teil findet Kinder zum Beispiel total super, während der kindliche Anteil sich noch zu fest unterversorgt und bedürftig fühlt und sich in seiner Not überhaupt nicht vorstellen kann, sich um ein Kind zu kümmern.
Klingt logisch.
Wenn die eigenen Gefühle betreffend Kinderwunsch so unklar und diffus sind, könnte man diesen verschiedenen Anteilen im Rahmen einer Therapie genügend Raum geben und sich mit ihnen auseinandersetzen, sie anhören. Auf diese Weise finden wir heraus, welche Teile der Patientin Zuwendung brauchen, um sie zu heilen. So kann es sein, dass sich eine anfangs noch unentschiedene Person nach einer Therapie klar für oder gegen Kinder entscheiden kann.
Dania Schiftan arbeitet seit 14 Jahren als Sexologin und Psychotherapeutin in ihrer eigener Praxis in Zürich. Zudem ist sie auch als Psychologin bei Parship tätig. Mehr über sie und ihren Job erfährst du im Interview mit ihr:
Auftaktbild: Roman Odintsov via PexelsAls Disney-Fan trage ich nonstop die rosarote Brille, verehre Serien aus den 90ern und zähle Meerjungfrauen zu meiner Religion. Wenn ich mal nicht gerade im Glitzerregen tanze, findet man mich auf Pyjama-Partys oder an meinem Schminktisch. PS: Mit Speck fängt man nicht nur Mäuse, sondern auch mich.