

Was ist eigentlich aus Freundschaftsbüchern geworden?

«Hast du Hunger, hast du Kummer, wähle einfach meine Nummer.» Solche und andere poetischen Ergüsse landeten in meiner Kindheit gerne in Freundschaftsbüchern. Sozusagen die Urform von Social Media. Gibt es sie noch?
Wir schreiben das Jahr 2000. Der Millenniumwechsel liegt gerade hinter uns. Der heraufbeschworene Zusammenbruch des weltweiten Computernetzes ist ausgeblieben. Ich gehe in die 3. Klasse und habe endlich auch ein Freundschaftsbuch. Obwohl ich ein (vor)lautes, vifes Kind bin, sind mir tiefgehende soziale Kontakte nicht ganz geheuer. Nach der Schule bin ich gerne für mich oder höchstens mit meiner Schwester. Andere Kinder um einen Eintrag in mein Büchlein zu bitten, macht mich deshalb ein wenig nervös. Dazugehören will ich aber trotzdem.

Lieblingsfarbe ororange
Vor ein paar Tagen habe ich zufällig mein Meisterwerk wiedergefunden, als ich meine Krimskrams-Schublade auf der Suche nach einem Ethernet-Kabel durchsucht habe. Auf meist zwei Seiten ist Platz für Hobbys, Lieblingsschulfächer, Spitzname und weitere definierende Charakteristika einer Person. Meines ist vom Pestalozzi-Verlag und ziemlich kindlich gestaltet, so wie es meinem neunjährigen Ich gefällt. Die ersten Seiten sind für mich reserviert. Mit vier verschiedenen Stiften und schwankender Schrift gebe ich über mich selbst Auskunft. So erfahren meine Freunde, dass eine meiner Lieblingsfarben «ororange» ist und ich gerne «radle». Mein österreichischer Vater hat wohl Einfluss auf meine Sprache.

Mein grösster Traum ist damals eine Reise nach Amerika. Das ist nicht nur so dahergesagt, ich habe ganze Ordner mit Collagen zu den USA. Diese Besessenheit wird sich erst legen, als ich mit 17 Jahren ein Austauschjahr ausserhalb von Philadelphia mache. Was Entertainment angeht, sind damals «Brinie Spiers» (übrigens #FreeBritney) und «Simsen» hoch im Kurs. Aber auch Pokémon, Digimon und «Hey Arnold» werden gerne nach der Schule geschaut.

Alles in allem treffen meine Freunde und ich sehr viele ähnliche Aussagen. Kein Wunder. Ich lese auch stets erst die Einträge der anderen und orientiere mich an ihnen. Gleichzeitig aber gibt’s die Untiefen des Internets noch nicht. Also schon, aber sie spielen noch keine Rolle. Wir schauen lineares Fernsehen, hören Lieder im Radio und kaufen uns CDs wie «Bravo Hits» und «The Dome». Wir stöbern am Kiosk in Zeitschriften wie dem «Yam», dem «Popcorn» und der «Bravo», die ich wegen der nackten Frauen und Männern nicht kaufen darf. Dafür habe ich ein GEOlino-Abo.
Beim Durchstöbern meines Büchleins und aufkommender Nostalgie frage ich mich, ob solche Freundschaftsbücher heute noch herumgereicht werden. Im Galaxus-Shop finde ich einige Exemplare, die Verkaufszahlen sind aber trotz Top-Lieferzeiten und -Verfügbarkeit unterirdisch. Auch meine viel jüngeren Brüder habe ich nie ihr Sternzeichen in ein Diddl-Buch eintragen sehen. Kann daran liegen, dass das zumindest zu meiner Zeit – ohne stereotypisieren zu wollen – eher ein Mädchending war.
Vom Freundschaftsbuch zu Sozialen Medien
Für mich wahrscheinlicher ist, dass Social Media dem Freundschaftsbuch den Rang abgelaufen haben – falls sie tatsächlich verschwunden sind. Wer sich auf Instagram, Snapchat und Tiktok mit Einblicken ins Privatleben verewigt, braucht kein Buch mehr. Die Anzahl Likes und Kommentare lassen heute auf die eigene Beliebtheit schliessen. Früher war es eben die Anzahl ausgefüllter Seiten in Freundschaftsbüchern.
Schon zur Zeit der Reformation, also im frühen 16. Jahrhundert, entstand das sogenannte Stammbuch. Darin wurden vor allem handschriftliche Grüsse gesammelt. Erst von berühmten Reformatoren, danach von Freunden. Unter Studenten würden auch Einträge von Professoren und damaliger Respektspersonen wie Pfarrern gesammelt, die als eine Art Empfehlungsschreiben an der Uni gezeigt wurden. Irgendwann später kam dann das Poesiealbum, wie es auch meine Mutter besass. Dort wurden füreinander Gedichte verfasst und Zeichnungen gemalt.

Alles ändert sich, nur die Rechtschreibfehler bleiben
Den Wunsch, einen Beweis für die Freundschaft zu besitzen, gibt es also schon ewig. Die Form hat sich einfach der Zeit angepasst. Aus langen Gedichten wurden kurze vorformulierte Fragen. Aus Fritz und Marianne wurden Michael und Sarah. Und aus Büchern wurden digitale Kanäle. Nur das mit den Rechtschreibfehlern hat sich durchgezogen. Und wer weiss, vielleicht sind Freundschaftsbücher ja noch immer der Renner auf dem Pausenplatz – oder bald wieder. Ich meine, mein 16-jähriger Bruder beantwortet die Frage nach seiner musikalischen Vorliebe momentan auch mit «so altes Retro-Zeug» und meint damit die Hits, die wir damals auf den zwei Seiten eingetragen haben.


Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.