
Hintergrund
Von der Rückkehr der Zeit: grössere Kinder, grössere Freiheit
von Michael Restin
Vorurteile über Einzelkinder halten sich hartnäckig. Dabei hat die Wissenschaft längst gezeigt: Ob jemand mit oder ohne Geschwister aufwächst, entscheidet längst nicht übers ganze Leben. Egal, ob du selbst Einzelkind bist oder dich entschieden hast, nur ein Kind zu haben: Hier ein paar Fakten, die ich Nörglern entgegenhalte.
Einzelkinder sind keine Seltenheit. Zwar sind in der Schweiz Familien mit zwei Kindern immer noch die Norm. Doch ein Sechstel aller Frauen hat nur ein Kind. Das sind nicht viel weniger Frauen als jene, die drei oder mehr Kinder haben. Einzelkinder sind auch keine moderne Erscheinung. Es gab schon immer Zeiten, in denen Familien weniger Kinder hatten. Die Vorstellung, dass es früher hauptsächlich Grossfamilien gab, in denen alle abends mit Oma vor dem Kaminfeuer sassen, hat wenig mit der Realität zu tun. Wenn überhaupt, galt sie für ein paar wenige und wohlhabende Familien. Trotzdem halten sich Vorurteile über Einzelkinder hartnäckig. Und Eltern müssen sich regelmässig für ihre Familiensituation rechtfertigen.
Daran ist auch ein Psychologe namens G. Stanley Hall Schuld. So wichtig seine Forschung gegen Ende des 19. Jahrhunderts zweifellos war – man nannte ihn auch den Sigmund Freud der USA –, Kindern ohne Geschwister hat er mit seinen Theorien keinen Dienst getan. Für seine Untersuchungen von Einzelkindern hatte er sich damals bewusst exzentrische Menschen ausgesucht. Die Folge: Noch Jahrzehnte später verbreiteten Psychologen die Ansicht, dass geschwisterlose Kinder grundsätzlich schwieriger und fürs Leben weniger gut gerüstet seien als andere.
Heute gibt es stapelweise Studien, die zeigen, dass G. Stanley Hall ziemlichen Mist erzählt hat. Einzelkinder sind nicht öfter eigenbrötlerisch, einsam oder ichbezogen als andere Menschen auch. Im Gegenteil: Die wenigen Unterschiede, welche Forscherinnen und Forscher in den vergangenen Jahrzehnten zwischen Kindern mit und ohne Geschwister festgestellt haben, sind für Einzelkinder eher von Vorteil. Einzelkinder sind im Durchschnitt etwas sozialer, intelligenter und anpassungsfähiger als Kinder mit vielen Geschwistern.
Dass Einzelkinder oftmals kognitiv im Vorteil sind, ist für den Journalisten und Autor Jeffrey Kluger keine Überraschung, wie er in seinem Buch «The Sibling Effect» schreibt. Es habe sich immer wieder gezeigt, dass in Familien mit einem Kind oftmals über viel mehr Themen und in einer erwachseneren Sprache gesprochen werde, als wenn noch zwei, drei Geschwister mit am Tisch sitzen. Noch etwas bessere Werte als Einzelkinder hatten allerdings Erstgeborene und Kinder mit nur einem Geschwister erzielt. Kluger vermutet, dass dies daran liegt, dass Erstgeborene die Möglichkeit haben, dem jüngeren Geschwister etwas beizubringen. Und umgekehrt das jüngere Geschwister viel exklusive Aufmerksamkeit vom älteren erhält.
Ein Vorteil ist laut Kluger auch, dass Einzelkinder oftmals früh lernen, sich alleine zu unterhalten. Vielen gelingt es sehr gut, ganz versunken zu spielen oder zu lesen. Wer etwas mit sich anzufangen weiss und sich auch alleine wohlfühlt, gerät auch weniger unter Druck, sich einer Kameradengruppe anzuschliessen, die gar nicht zu ihm passt. Gleichzeitig wissen die meisten geschwisterlosen Kinder ihr Bedürfnis nach anderen Kindern gut zu stillen: Sie schliessen Freundschaft mit Nachbarskindern und Kindergartengspänli oder pflegen eine nahe Beziehung zu Cousins und Cousinen.
Einzelkinder haben auch den Vorteil, dass alle Ressourcen der Eltern, sei es Zeit oder Geld, ausschliesslich für sie da sind. Kommen sie aus einer Familie ohne finanzielle Probleme, gibt es oft mehr Möglichkeiten, auf eine gute Schule zu gehen, mit den Eltern die Welt zu bereisen, ein Instrument zu lernen oder Tanzstunden zu nehmen. Es ist auch leichter für Eltern, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu berücksichtigen, seien es die geliebten Spaghetti Bolognese zum Znacht oder den Besuch des Streichelzoos am Samstagnachmittag. Viele Einzelkinder haben ein besonders gutes und nahes Verhältnis zu ihren Eltern.
Doch natürlich ist auch im Leben eines Einzelkindes nicht alles einfach rosig. So sind die Posaunenstunden, der Malkurs und die teuren Nachhilfestunden oftmals mit der Erwartung verbunden, dass das Kind auch etwas daraus macht. Und die exklusive Aufmerksamkeit der Eltern ist zwar schön, wird Kindern aber manchmal auch zu viel. Die Versuchung, ein Kind wie ein zartes Pflänzchen vor jedem Windhauch zu schützen, ihm Traurigkeit, Enttäuschung und Wut um jeden Preis zu ersparen, ist grösser, wenn zu Hause keine weiteren Geschwister Aufmerksamkeit fordern. Haben geschwisterlose Kinder eher wenig Kontakt zu anderen Kindern, üben sie in den ersten Jahren ausserdem noch nicht in gleichem Mass zu teilen und zu warten, auszuhandeln und Kompromisse zu schliessen, wie das andere tun.
Bevor du dir aber zu viele Gedanken über geschwisterlose Kinder machst, musst du dich vielleicht auch fragen: Was ist eigentlich ein Einzelkind? Wenn ein Kind mit sieben oder zehn Jahren das erste Geschwister bekommt – hat es damit prägende Jahre, in denen es Spielsachen und Eltern nicht teilen musste, nicht auch als Einzelkind erlebt? Ist eigentlich nicht jedes Erstgeborene erst mal Einzelkind, es sei denn, es wird als Zwilling geboren? Und: Lernt ein geschwisterloses Kind, das viel Zeit mit Cousins beim Grosi oder anderen Kindern in der Kita verbringt, nicht auch vieles von dem, was andere mit ihren Geschwistern lernen? Deshalb gilt auch hier bei allen guten Ratschlägen: Jedes Kind ist anders. Und du kennst deines am besten.
Journalistin und Mutter von zwei Söhnen, beides furchtbar gerne. Mit Mann und Kindern 2014 von Zürich nach Lissabon gezogen. Schreibt ihre Texte im Café und findet auch sonst, dass es das Leben ziemlich gut mit ihr meint.<br><a href="http://uemityoker.wordpress.com/" target="_blank">uemityoker.wordpress.com</a>