
Hintergrund
«Ein Rennen fühlt sich an wie das Leben im Schnelldurchlauf»
von Michael Restin
Als weltbeste Ultracyclerin fährt Nicole Reist längst in der Weltspitze der Männer mit. Nur wenige können sich bei extremen Non-Stop-Radrennen mit ihr messen. Beim «Adriatic Cycling Marathon» hat sie nun alle geschlagen – das hat vor ihr noch keine Frau geschafft.
Die Leistungen von Nicole Reist machen mich schon beim Lesen fertig. Ich habe mich heute vom Schlafzimmer übers Bad und die Küche bis ins Wohnzimmer bewegt, wo ich an meinem Arbeitsplatz stehe. Rechne ich die vergangenen 43 Stunden und 54 Minuten dazu, komme ich auf eine Joggingrunde, einen Schwimmbadbesuch und ziemlich viel Schlaf. Das geht mir durch den Kopf, als es «Pling» macht und die Mail mit dem Betreff «Ultracycling-Sensation: Nicole Reist holt Overall-Sieg am Adriatic Cycling Marathon» aufpoppt.
Soll heissen: Die Winterthurerin hat sie alle abgehängt, Frauen und Männer. Nicole Reist ist in 43 Stunden und 54 Minuten 1200 Kilometer Velo gefahren und hat 7000 Höhenmeter überwunden. Was ihr eigentlich viel zu wenig ist. Die Kilometer. Und vor allem die Höhenmeter. «7000 Höhenmeter sind auf eine solche Distanz sehr wenig», erklärt Nicole Reist in der Medienmitteilung.
Da hat sie natürlich Recht. Das ist weniger als ein Mount Everest und reicht somit nicht mal für den Trendsport «Everesting». Ihr Standpunkt ist natürlich ein anderer, denn trendige Events sind «Berggeiss» Nicole Reist relativ egal. Ihre Leistung und Motivation ist schwer zu fassen. Ich hab’s mal versucht.
Meine Fragen hat sie damals irgendwann nachts per Mail beantwortet. Zwischen ihrem Vollzeitjob als Hochbautechnikerin und den langen Trainingsrunden schrieb sie: «Ich trainiere dann, wenn andere noch schlafen, so dass ich vor der Arbeit bereits die erste Einheit absolviert habe. Und nach der Arbeit kommt noch eine zweite.»
Ihr Massstab ist keine «kleine» Tour wie der «Adriatic Cycling Marathon» mit seinen 1200 Kilometern und den läppischen 7000 Höhenmetern. Ihr Massstab ist das «Race Across America». Die 4 941 Kilometer quer durch die USA über insgesamt 53 400 Höhenmeter gelten als härtestes Ultracycling-Rennen der Welt. 2016 hat sie es erstmals gewonnen, 2018 wieder. Da schon als Dritte der Overall-Wertung, nur zwei Männer waren vor ihr im Ziel. Im Jahr 2019 lesen sich ihre Saison-Highlights so:
Immer weiter, immer besser, immer extremer. Es musste schon die Corona-Epidemie kommen, um Nicole Reist davon abzuhalten, beim «Race Across America» dieses Jahr erneut alles in Grund und Boden zu fahren und weitere Rekorde aufzustellen. Dass sie beim «Adriatic Cycling Marathon» die Overall-Wertung gewonnen hat, ist für mich keine Ultracycling-Sensation. Dass sie es nach einem Sturz in die Leitplanke leicht verletzt geschafft hat, ebenfalls nicht. Dass ihr das Streckenprofil nicht lag – was soll's?
Das ist schlicht und einfach Nicole Reist, die beste Ultracyclerin der Welt. «Ich bin überzeugt, dass der Mensch viel mehr leisten kann, wenn er bereit ist, seine Komfortzone ab und zu zu verlassen», hat sie mir vor zwei Jahren auf eine meiner Fragen geantwortet. Ich gehe dann mal aus dem Wohnzimmer in die Waschküche.
Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.