
Meinung
Dein Kind glaubt noch ans Christkind? Warum es (nicht) okay ist, zu lügen
von Katja Fischer
Die zwischen 1967 und 1974 aufgenommenen Kasperlitheater sind bis heute populär. Sie enthalten jedoch eine ganze Reihe problematischer Ansichten – wie sollen Eltern im Jahr 2021 damit umgehen?
«Es Schnuseli-Chruseli-Afrikanerli!» – so beschreibt Jörg Schneider alias Kasperli das Mädchen, das er und sein Freund Schorsch erblicken, nachdem die beiden an der Küste Afrikas gelandet sind. Kasper grüsst: «Sali, Chruseli! Wie gheissisch du?» Das Mädchen antwortet: «’Eisse Susu! Wi ’eisse du?» Sie spricht weiter in fürchterlich gebrochenem Deutsch, was Kasper folgendermassen kommentiert: «Du schwätzisch goppel Chinesisch! Das Kuddelmuddel verschtaat ja kän Mänsch!»
Würde man ein solches Hörspiel heute produzieren und veröffentlichen, erhöbe sich augenblicklich der Vorwurf der Diskriminierung, und zwar völlig zurecht: Danebst, dass es keine «Afrikaner» gibt und schon gar keine «Afrikanerli», sollte man Schwarze Menschen nicht «Chruseli» nennen, nur weil sie krauses Haar haben, und man sollte sie in einem Hörspiel nicht in schlechtem Deutsch reden lassen, weil sie das ungebildet erscheinen lässt. Und schliesslich sollte man schlechtes Deutsch nicht «Chinesisch» nennen. Das Kasperlitheater Nr. 7. trieft vor Kolonialismus und Rassismus.
Kasperlitheater Nr. 13 steht dem in nichts nach: Es heisst «Füürio, de Zeusli chunnt!» und handelt von einem kleinen Pyromanen. Als Folge einer seiner früheren Schandtaten ist die einst weisse Katze der Familie komplett verrusst und wird seither «Negerli» genannt. An einer Stelle, als die Katze ihn vom neuerlichen Zündeln abhalten will, ruft der von Paul Bühlmann gespielte Zeusli: «Chumm, haus jetzt furt, du blöde Neger!»
Ich habe als Kind die Kasperlitheater geliebt. Rauf und runter habe ich sie gehört, am liebsten bei meinen Grosseltern. Meine Omama kaufte mir regelmässig eine neue Langspielplatte und dazu ein Fabuland-Set. Ich spielte stundenlang mit den niedlichen Tierfiguren, hörte währenddessen Kasperli und machte mir keine Gedanken zu dessen chauvinistischer Haltung. Es kam auch niemand auf die Idee, mir zu erklären, warum man nicht so reden sollte. Man redete damals, Ende der 1970er-Jahre, eben so (in meiner Familie zum Glück nicht): Schwarze Menschen nannte man Chruseli, unverständliche Sprache war Chinesisch, und schwarze Katzen hiessen Negerli. Es war normal. Was nicht heisst, dass es in Ordnung war.
Damals wehte auch sonst ein steifer Wind: Kasperli und seinen Freunden wird immer wieder mit Ohrfeigen gedroht – echte Haue kriegt er zwar nie, aber das ist auch gar nicht nötig, er stellt seine frechen Sprüche angesichts der Prügelstrafe jeweils sofort ein und kooperiert. Ich erinnere mich, dass es diversen meiner Nachbarskindern und Schulfreunden und -freundinnen gleich erging: Spurten sie nicht, wurde ihnen mit einer «Flättere» gedroht, wahlweise auch mit der Abschiebung ins Kinderheim, was meist den gewünschten Effekt erzielte. Und wenn nicht, knallte es dann halt doch mal.
Auch Kasperli ist – bei allem Frohsinn – alles andere als ein Ausbund von Sanftmut: Zwar werden seine missratenen Freunde, die mit Feuer spielen, Meerjungfrauen quälen, die Mutter anpöbeln und ihre Pflaumen nicht teilen wollen, allesamt von Teufeln, Hexen und dergleichen auf den Pfad der Tugend geführt, doch Kasperli dankt es letzteren, indem er sie in Fässer einnagelt oder dunkle Keller einsperrt, um schliesslich singend davonzuspazieren. Letztlich ist der Kerl ein totaler Soziopath.
Höchste Zeit also, sich mal ein paar Gedanken zu machen über diese Figur, rund 50 Jahre nach ihr Entstehung – vor allem angesichts der eigenen Vaterschaft. Mein Sohn findet die zugegebenermassen höchst kreativen Hörspiele nämlich genauso toll wie ich damals und kann sie ebenfalls über weite Strecken auswendig zitieren. Zum Glück verzichtet er intuitiv auf die kritischen Stellen, aber ein paar Dinge musste ich ihm doch noch genauer erklären:
Natürlich habe ich mich auch gefragt, ob man die Kasperli-Hörspiele im Jahr 2021 überhaupt noch abspielen darf. Ob man sie also besser canceln sollte, wie das heute heisst. Ich habe mich dagegen entschieden. Erstens, weil die Stücke nebst all ihren höchst fragwürdigen Anachronismen sehr lustig und unterhaltsam sind. Und zweitens, weil Rassismus nicht aus der Welt geschafft wird, wenn Kasperli aus meiner Mediathek verschwindet. Und drittens, weil sie gutes Lehrmaterial für die entsprechenden Gespräche mit einem Kind bieten. Deshalb läuft Kasperli bei Meyers munter weiter, wird aber immer wieder mal gestoppt und gemäss aktueller Moral zurechtgewiesen.
Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch.