

Panini, die liebenswerte Mogelpackung

Sie kosten ein kleines Vermögen, jedes Päckli birgt Enttäuschungen und die Frisuren der Spieler sind längst nicht mehr das, was sie mal waren. Trotzdem kommen beim Panini-Sticker-Sammeln immer noch grosse Gefühle auf.
Es ist passiert. Und es ist nicht meine Schuld. Als mein fünfjähriger Sohn mir stolz sein glänzendes Panini-Album präsentiert, bin ich ein wenig erleichtert, dass nicht ich ihn angefixt habe. Er hat von sich aus fast sein komplettes Sackgeld in das Hochglanz-Heft investiert, dessen Seiten er jetzt hektisch blätternd malträtiert. Darin findet er kaum Köpfe, sondern hauptsächlich weisse Kästchen. Die erste Mogelpackung seines Lebens. Aussen glänzend, innen ist so gut wie nix. Ein leeres Versprechen.

Noch nie hat mich ein bevorstehendes Turnier so wenig interessiert wie dieses. Ich muss schmunzeln, als ich in einer Pressemitteilung zum Sammelheft vom 8. April 2021 lese: «Nie schien der Zeitpunkt passender für ein Produkt zur UEFA EURO 2020TM, das Spass und Spiel ins Leben bringt.» Doch, liebe Panini-Dealer, 2020 wäre in einer coronalosen Welt der passende Zeitpunkt gewesen. Ob jetzt ein passender Zeitpunkt ist, im Namen des Fussballs kreuz und quer durch Europa zu reisen, darf zumindest mit einem dicken Fragezeichen versehen werden.
Ans nächste Turnier in Katar will ich gar nicht erst denken. Dazu kommen Infantinos WM-Expansionspläne, langweilig gewordene Ligen, die Champions League der Scheichs und Oligarchen sowie eine Bande Spitzenklubs mit Fantasien, die selbst Uefa-Funktionäre wie Bewahrer des ursprünglichen Fussballs dastehen lassen. Es läuft so viel falsch. Andererseits ist es das erste Turnier, dem mein Sohn entgegenfiebert, und Fussball ist immer noch Fussball. Ein Spiel, das berührt. Seine Begeisterung blüht gerade auf und steckt mich immer mehr an.
Glitzersticker statt Glacé

Ich lächle, wenn er von Messi in «Paselona» erzählt. Was er über die grosse weite Welt weiss, hat viel mit Fussball zu tun. Er saugt die Infos geradezu auf. «Papi, wo spielt Mbappé?» Eine Frage nur, schon sind wir im Gespräch. Wir reden über den Unterschied zwischen Städten und Ländern, besprechen, warum Paris nicht Europameister werden kann, philosophieren über das biblische Alter von Ronaldo und ich muss erklären, warum Neymar im Sommer auf einem anderen Kontinent und nicht an der EM über den Rasen kugelt. Dann gehen wir auf den Sportplatz, wo ein hellblonder Mini-Mbappé mindestens 30 Tore schiesst und sich in Stadien träumt, die er noch nie gesehen hat.
Der perfekte Nachmittag, den ich mit Stickern statt Glacé veredeln will. Ein leeres Album ist nun mal nichts. Und morgen früh wird auf dem Pausenplatz nicht nur Fussball gespielt, sondern auch mit doppelten Bildern gedealt. Wer nichts hat, ist nicht dabei. Das Panini-Prinzip zielt aufs Portemonnaie der Eltern. Mit Sackgeld alleine bekommt kein Kind das Heft voll, dafür ist eine dreistellige Summe fällig. Wer weder Geld noch Gönner hat, greift manchmal zu drastischen Mitteln: In Argentinien wurden vor der WM 2018 mit Waffengewalt ganze drei Millionen Sticker geraubt. Spötter behaupten, das sollte zumindest für ein komplettes Heft reichen. In jedem Fall war die Beute ein Vermögen wert.
Wir stehen noch ganz am Anfang und checken die Preise. Am Kiosk kostet ein Päckli stolze 1.10 Franken, doch der Kleine weiss: Beim Buchhändler um die Ecke sind es nur 90 Rappen. Er lernt den Umgang mit Geld, denke ich, drücke ihm 2.70 Franken in die Hand und gebe noch ein paar Tipps, wie er durch sanftes Biegen die dicken Glitzersticker erfühlen kann. Das haben wir uns zumindest früher eingebildet. Mein Sohn kann kaum über die Ladentheke gucken und fischt vorsichtig drei Päckli aus der Box, bevor er die abgezählten Münzen über den Tisch schiebt. Ich beobachte die Szene und denke, dass das Geld doch ganz gut investiert ist. Glacé wäre auch nicht besser. Oder? Man soll die Päckli nicht vor dem Öffnen loben.
Ist der gut?

Kaum sind die drei Wundertüten aufgerissen und nach den natürlich nicht vorhandenen Superstars durchsucht, ist Diplomatie gefragt. Die Frage, ob der Nordmazedonier Vlatko Stojanovski gut ist, kann ich nur mit «sonst dürfte er ja nicht mitspielen» beantworten. Wir entziffern gemeinsam Namen, suchen Nummern und kleben Sticker in ihre Rahmen, wie es Generationen vor uns schon getan haben. Menschen sind nun mal Jäger und Sammler. Und Verschwörungstheoretiker. Dass die einzelnen Aufkleber wirklich gleich häufig gedruckt werden, wird immer wieder bezweifelt. In manchen Ländern wohl zu Recht, sagen Statistiker.
Noch ist das meinem Sohn egal, aber der zweite Vlatko Stojanovski kommt bestimmt. Dann lernt er den Tauschhandel und die Gesetze des Marktes kennen. Wie viele Stojanovskis sind ein Mbappé? Und ist das fair? So ein Panini-Album ist die grosse Welt im Kleinen. Nur viel übersichtlicher geordnet. Unbekannte Gesichter wecken die Neugier und werden sorgfältig einsortiert, bekannte Spieler gefeiert. Er freut sich über das Bild von Manuel Akanji, zu dem ich immerhin etwas Lehrreiches sagen kann. «Schau, er kann nicht nur sehr gut Fussball spielen, sondern auch super rechnen.»
Stilkritik
Wenn ich durch das Hochglanz-Heft blättere, löst das in mir vor allem Nostalgie aus. Gedanken an schräge Typen mit Schnauz, Minipli- und Vokuhila-Frisuren oder Roberto Baggios Zöpfchen. An missmutig dreinblickende Kerle, die aussehen, als wären sie am Morgen nach einer Kneipenschlägerei vor die Kamera gezerrt worden. An eine noch nicht bis zur Unkenntlichkeit durchvermarktete Fussballwelt.

Quelle: Twitter/@OldSchoolPanini
Die aktuellen Stars schauen auf den Panini-Bildern alle kreuzbrav in die Kamera. Insgeheim weiss ich natürlich, dass mir früher vor allem deshalb alles besser vorkam, weil es für mich neu und aufregend war. Weil ich mehr in den Stickern gesehen, sie als Projektionsfläche für Träume genutzt habe. Vielleicht bin ich einfach neidisch, dass ich das nicht mehr kann.
In den Augen meines Sohnes entfalten die Spieler, Länder und Logos, das Maskottchen und der glänzende Pokal jetzt ihren Zauber. Seine Fussballwelt ist noch in Ordnung. Ich erkläre ihm gelegentlich, was nicht so gut läuft. Er zeigt mir immer öfter, was echte Begeisterung bedeutet. Die Sticker sind ein Teil davon. Sie wecken Vorfreude, sind eine liebenswerte Mogelpackung mit Tradition. Deshalb gilt: Kleben und kleben lassen.



Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.