
Nino Schurter – ein kompletter Mountainbiker besiegt seinen Fluch

Sein Gesicht siehst du selten. Du würdest es auch kaum erkennen: schmutzig, ausgepowert und verschwitzt. Ein Helm mit dem Sponsor schützt seinen Kopf – nebst seinen Beinen das wohl wichtigste Werkzeug des Bündners. Ein Profi-Radsportler, der derart hart für jeden einzelnen seiner Erfolge gearbeitet hat wie sonst kein Zweiter.
Das mächtige Regenbogen-Trikot des Weltmeisters bleibt meist nur die ersten hundert Meter sauber. Denn Schurter gibt von der ersten Sekunde an Vollgas. Er strapaziert seine Ausrüstung, verlangt seinem Bike alles ab und bringt seinen Körper an die Leistungsgrenze. Schweizermeister, Weltmeister und Olympiasieger: Er hat alles erreicht, was es im Mountainbike-Zirkus zu holen gibt. Doch dafür musste er mehr tun als alle anderen.

Früh übt sich
Als 16-Jähriger gewann er seinen ersten grossen Titel: Nino wurde Schweizermeister auf dem Mountainbike in der Kategorie «Kadetten». Zwei Jahre später wiederholte er diesen Triumph bei den Junioren, in den darauffolgenden Jahren 2005 bis 2008 schaffte er dasselbe Kunststück auch bei den Espoirs, die Kategorie der U23-Athleten. 2003 holte er sich ausserdem die Silbermedaille an der Weltmeisterschaft, ein Jahr später sicherte er sich gar den Titel. 2005 komplettierte er an der WM den Medaillensatz und holte Bronze. 2006 wurde er Europameister, Gesamtweltcup-Sieger und Weltmeister.

Der Olympia-Fluch
Als Schurter 2008 in Peking erstmals an den Olympischen Spielen teilnahm, gewann er auf Anhieb gleich die Bronzemedaille. Dies eine Überraschung zu nennen, wäre aber dennoch nicht ganz fair. Er gehörte zwar nicht zu den Top-Kandidaten auf Gold, zählte aber trotzdem zum erweiterten Favoritenkreis. Klar, mit solch einem Palmares aus seinen Junioren-Zeiten konnte ihn keiner ignorieren. Zufrieden, aber auch ehrgeizig und kämpferisch, gab sich Nino Schurter nach seinem dritten Platz in Peking: «In vier Jahren, in London, will ich Gold!» Und dafür würde er alles tun, wie sich später herausstellen sollte.

Sisyphos-Arbeit in drei Akten
Vier Jahre lang bereitete sich Schurter nach der Olympiade in China akribisch auf die nächsten Spiele in Grossbritannien vor. Nichts überliess er dem Zufall, jede Wettkampfsteilnahme wurde geplant, vorbereitet und ausgeführt – immer mit London im Hinterkopf. Risiken wurden minimiert, Rennen ausgelassen – selbst die Ernährung hat er in weiser Voraussicht auf den kommenden Grossanlass angepasst. Falls du jetzt denkst, er hätte vier Jahre nichts gewonnen, hier ein kurzer Reminder: 7 Weltcup-Siege, Weltmeister 2009 und 2012 sowie Schweizermeister 2010 und 2012.

Die vermaledeiten fünf Ringe
Aber auch 2012 sollte es nicht sein: Der verflixte Schelm Jaroslav Kulhavý überholte den Über-Biker Schurter 200 Meter vor dem Ziel und schnappte ihm so das lang ersehnte und hart erarbeitete Gold vor der Nase weg. Kulhavý wurde nicht als einer der ganz grossen Favoriten gehandelt, Nino hatte ihn das ganze Rennen über trotzdem im Griff, unterschätzte aber kurz vor dem Ziel den Antritt des Tschechen und holte schliesslich «nur» Silber. Er weinte. Die ganze Vorbereitung wurde in einer Zehntelsekunde von einem Unbekannten auf den Kopf gestellt. Eine Welt brach in sich zusammen. Er konnte all seine Stärken, den schnellen Antritt, das einwandfreie Downhilling und seine mentale Präsenz nicht ausspielen. Alles war bereit für den grossen Triumph... nur Schurter nicht.

Hunt for glory
Dies galt es, erst einmal zu verdauen. Vier Jahre hat er auf den grossen Moment gewartet, der ihm dann gestohlen worden ist. Alles begann wieder von vorne. Doch Nino Schurter ist einer der verbissensten Sportler auf diesem Planeten, nicht nur in der Mountainbike-Disziplin. Aller guten Dinge sind drei, dachte er sich und nahm die Strapazen, Vorbereitungen und Mühen erneut auf sich, um in Rio 2016 endlich zuoberst auf dem Treppchen stehen zu können. Er zögerte keine Sekunde, brauchte keine Auszeit und stellte seinen Traum abermals in den Fokus. Sein Team plante noch detaillierter, Learnings aus den ersten beiden Versuchen wurden umgesetzt und Schurter arbeitet intensivst an sich selbst. Er wagte gar einen Ausflug in die Welt des Strassenrennradsports, wo er 2014 mit Orica-Greenedge die Tour de Romandie und die Tour de Suisse bestritt.
Die verspätete Krönung
Er startete mit #huntforglory auch eine eigene Serie von Webisoden – Videos, die zeigen, wie er sich auf die Olympischen Spiele in Rio vorbereitet hat. Aber nicht nur: «It´s not only about how Nino prepares for the biggest goal of his career, the golden medal in Rio de Janeiro in 2016, but even more about shredding trails, travelling around the world, and all the fun that mountain biking brings.», heisst es auf seiner Homepage und im Kommentar unter den Videos. Er überliess auch diesmal nichts dem Zufall und seine Fans durften ihn dabei begleiten. Im vollen Bewusstsein, dass auch dieser Schuss gewaltig nach hinten losgehen könnte, arbeitet Schurter härter und mehr denn je. Er sah es nicht als Risiko, dass die Erwartungen erneut ins Unermessliche stiegen – er sah es als Chance und als gewaltige Motivationsspritze. Und diesmal hat alles funktioniert. In unfassbar überlegener Manier gewann Nino Schurter 2016 Gold an den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro.

Ein grosses Häufchen Glück
Aber Schurter wäre nicht Schurter, wenn er sich als Olympiasieger einfach hätte gehenlassen. Im Gegenteil: 2017 gewann er alle Rennen, an denen er teilgenommen hatte. Dies brachte ihm unter anderem den Sieg am legendären «Cape Epic» ein, den fünften Gesamtsieg im Mountainbike-Weltcup, den Weltmeistertitel im Einzel, sowie auch ein erstes Mal den Titel in der Staffel-Disziplin. Rückhalt, Support und Aufmunterung in schwierigen Zeiten holt sich der bescheidene Biker bei seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter. Ob er bereits ans Aufhören denkt? Durchaus. Er weiss aber auch, dass er sich derzeit in der Form seines Lebens befindet. Und: Doppelolympiasieger klingt auch nicht so schlecht, oder?



Wenn ich nicht gerade haufenweise Süsses futtere, triffst du mich in irgendeiner Turnhalle an: Ich spiele und coache leidenschaftlich gerne Unihockey. An Regentagen schraube ich an meinen selbst zusammengestellten PCs, Robotern oder sonstigem Elektro-Spielzeug, wobei die Musik mein stetiger Begleiter ist. Ohne hüglige Cyclocross-Touren und intensive Langlauf-Sessions könnte ich nur schwer leben.