

Mädchen brauchen Jungenspielzeug – eine Geschichte aus meiner Kindheit

Bogotá, Kolumbien. Anno 1993. In einer Stadt, die noch immer die Wunden von Pablo Escobar leckt, waren meine Eltern bereit, diese Hölle endlich zu verlassen. Einen Monat vor dem Tod des berüchtigten Drogenbarons.
Als Angestellter der Schweizer Firma Novartis – früher bekannt als Ciba-Geigy – hatte mein Vater die Wahl, für die Arbeit in die Schweiz zu ziehen und nach einem Jahr meine Mutter, meinen Bruder und mich einzufliegen, oder sofort mit uns nach Ecuador umzuziehen. Wenn man die Bomben- und Mordanschläge so wie er hautnah miterlebt hat, würdest du auch keine zwei Mal überlegen: Ecuador. Ich sollte schliesslich zwanzig Jahre später trotzdem in die Schweiz ziehen. Man merkt mir die Ausländerin sofort an, wenn man mich reden hört, aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.
Wir wohnten einen Monat lang in einem Hostel bis meine Eltern das Haus gefunden haben, das ich 13 Jahre lang mein Zuhause nannte. Von diesem Monat weiss ich nichts mehr, aber ich erinnere mich an die Zeiten, als unsere Möblierung sich auf einige Matratzen am Boden und einen TV beschränkten.
Mein erstes Spielzeug
Und ich erinnere mich an mein erstes Spielzeug. Teufel nochmal, ich erinnere mich sogar an den Ausflug zum Spielzeugladen um es zu besorgen: Eine Mighty Morphin Power Rangers Actionfigur. Wir waren damals zwei Geschwister, also kaufte meine Mutter zwei, einen roten und einen gelben Ranger. Ich kannte die Serie und wusste nur zu gut, dass der gelbe eine der Frauen war, die Quoten-Asiatin. Aber ich war – und bin immer noch – das älteste Geschwister, und ich war – und bin immer noch – der Boss und mochte den Roten Ranger mehr, also war der Rote Ranger meiner. Mein einjähriger Bruder bemerkte das nicht und es kümmerte ihn logischerweise nicht.
Die Hauptfigur zu spielen gab mir Selbstvertrauen. Ich fühlte mich bemächtigt, alle wichtigen Entscheidungen zu treffen, um die Welt zu retten. Solch eine heikle Position kann man seinem jüngeren Geschwister natürlich nicht anvertrauen, das wäre unverantwortlich. Es spielte keine Rolle, ob das Geschlecht für ihn gestimmt hätte. Es spielte auch keine Rolle für die damals vierjährige Mariana (mich).

Es ist eine grausame Welt
Dann gingen wir in den Kindergarten. Neue Kinder, aber noch wichtiger: Neue Spielzeuge. Da lernte ich Mega Bloks und die Grausamkeit von Kindern kennen. Als ein fünfjähriges Mädchen aus einem anderen Land, das andere Wörter mit einem anderen Akzent benutzt, war ich ein einfaches Ziel.
Natürlich wollte ich meine eigene Welt bauen, um sie zu beschützen, schliesslich ist es das, was der Anführer der Power Rangers macht – und sie auch ab und zu mit seinem Megazord zerstören; Kollateralschaden halt. Mit Mega Bloks war diese Welt nur ein paar Stunden entfernt. Aber es gab bereits eine klare Hierarchie, und ich wurde vom herrischen ältesten Jungen des Spielplatzes zu den Puppen und in die Küchenecke geschickt.

Ich verstand nie den Reiz von Puppen und Spielzeugküchen. Sogar als ich begann, mit Barbies zu spielen, wählte ich die Zahnärztin, die sich das Auto und das Strandhaus leisten konnte. Barbie Ballerina konnte das nicht, aber darum geht’s nicht.
Ich konfrontierte das Kind, das den Bereich mit dem Baumaterial kontrollierte, damit. Es sei unfair, dass ich nur wegen meinem Geschlecht nicht dort spielen durfte. Er leitete aber die Diskussion nur auf meinen Akzent um und machte die anderen Kinder darauf aufmerksam, wie lustig ich klinge. «Anders» ist für Kinder – und einige Erwachsene – ein effizientes Werkzeug, um alle gegen dich aufzubringen. All die Lacher wurden zu Witzen und führten zum Ausschluss. Nicht mal in der Küchenecke war ich noch willkommen.
Mama rettet den Tag
Als ich nach Hause kam und mein Herz ausweinte, hat mich meine Mutter getröstet. Aber sie wusste, dass das nicht genug war. Also hat sie mich mit mentaler Stärke und einem Plastikschwert ausgestattet, um dieser grausamen Welt alleine entgegenzutreten.
Am nächsten Morgen verliess ich mein zu Hause mit einem Grinsen von Ohr zu Ohr und meinem eigenen Anti-Rüpel-Excalibur. Was als nächstes passierte, ist etwas schwammig in meiner Erinnerung. Es begann mit einigen Witzen über meinen Akzent, mir wie ich mein Plastikschwert über den Spielplatz schwang und einem weinenden ehemaligen Rüpel in einer Ecke.
Ich brauche nicht zu erwähnen, dass Beschwerden der anderen Eltern an meine Mutter gelangten, aber sie wusste, dass die anderen Kinder angefangen hatten… Und sie war stolz auf mich.

Der böse Vollstrecker der Geschlechterrollen war gestürzt worden von dem drei Jahre jüngeren, komischen Mädchen und eine neue Ordnung war etabliert. Nun war ich nicht nur im Stande, meine eigene Welt zu bauen und andere anzuweisen, sie zu erweitern. Auch meine Position als Roter Ranger war gefestigt, nicht nur zu Hause sondern auch in meinem neuen Königreich des Kindergartenlandes.
Rückblickend denke ich, meine Mutter hat ganze Arbeit geleistet. Schau mich an, ich bin ganz ordentlich rausgekommen – oder mindestens denke ich das. Meine Erfahrungen haben mich von klein auf gelernt, dass ich das Selbstvertrauen und die Stärke habe, mich in widrigen und fremden Umgebungen durchzusetzen. Ich fürchte mich nicht, die Grenzen neu abzustecken und neue Herausforderungen zu suchen. Das hat mich hierhin gebracht, einen halben Planeten weit weg von all den Menschen, die ich kenne und liebe. Mit einer Sprache, die ich immer noch mühselig versuche zu meistern. Alles was ich brauchte war ein Spielzeug, um dieses Potenzial freizulegen. Würdest du das für deine Tochter nicht auch wollen?
Kinder sind verschieden, aber wir können uns alle darauf einigen, dass eine liebevolle Umgebung mit Unterstützung Wunder für jede Kindheit bewirken kann. Und auch ein Plastikschwert. Danke, Ma.


Grafik-Designerin, Pokémon-Trainerin, tech-savvy und keine Schriftstellerin. Seit 2014 bin ich in der Schweiz. Ich führe einen steten Kampf gegen schlechtes Design.