«Ich war in deinem Alter viel mehr Rebellin, als du. Ich musste mich viel verzweifelter wehren»
Hintergrund

«Ich war in deinem Alter viel mehr Rebellin, als du. Ich musste mich viel verzweifelter wehren»

Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist besonders. Besonders intensiv, besonders schön, besonders kompliziert. Die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter bildet dabei keine Ausnahme. Wir ziehen eine Zwischenbilanz von Frau zu Frau, von Mutter zu Tochter im Gespräch.

Eine Beziehung zwischen Nähe und Distanz, zwischen festhalten und loslassen, zwischen Autonomie und Abhängigkeit. Jede Mutter-Tochter-Beziehung ist ein Unikat. Nur eines haben sie gemeinsam: Die Bindung zwischen Müttern und ihren Töchtern ist die stärkste aller Familienbeziehungen. Das zeigt eine Studie im Fachmagazin Journal of Neuroscience. Autorinnen und Autoren erklären: Zwischen Mutter und Tochter besteht eine engere Bindung als zwischen Mutter und Sohn, Vater und Sohn oder Vater und Tochter. In einfachen Worten ausgedrückt, liegt der Grund dafür in unserer emotionalen Verkabelung. Jene Gehirnareale, die für Emotionen verantwortlich sind, sind bei Mutter und Tochter besonders ähnlich aufgebaut. Wir können uns laut Studie besser in einander hineinversetzen und begegnen uns mit mehr Empathie.

Olivia Leth und ihre Mutter Jutta lassen ihre Mutter-Tochter-Beziehung revue passieren.
Olivia Leth und ihre Mutter Jutta lassen ihre Mutter-Tochter-Beziehung revue passieren.
Quelle: zvg

Mutter

Jutta ist Mama, Tochter, Oma, Fahrrad-Sammlerin, Umweltaktivistin und Psychiaterin in Wien. Als letztere arbeitet sie unter anderem im Gefängnis mit Sträflingen und auch privat ist sie überzeugte True-Crime-Enthusiastin. Sie liebt das Meer, warme Tage und laue Nächte und fährt dafür am liebsten nach Kroatien.

**Tochter **

Olivia ist Tochter, Freundin, Schwester, Redakteurin, Sozialökologin und Ex-Musikstudentin. Geblieben ist ihr von letzterem nur eine extraordinäre Sammlung an Musikinstrumenten und ein wöchentlicher Besuch der Jamsession. Sie liebt Kreuzworträtsel, auch wenn sie nicht gut darin ist, sie zu lösen und würde immer lieber in die Berge als ans Meer fahren.

Ich zähle mich zu den Glücklichen mit einer sehr harmonischen Mutter-Tochter-Beziehung. Als Zweitgeborene bin ich nicht nur Nesthäkchen, sondern auch prädestiniertes Mama-Kind, egal wie alt ich werde. Aber auch für die Beziehung, wie ich sie mit meiner Mutter habe, gilt: Reibung erzeugt Wärme und ohne Streit, keine Beziehung. Meine Mutter und ich unterhalten uns über unser gutes Verhältnis, über das Muttersein, das Alleinerziehen und warum meine Mutter immer einen Drogenschnelltest zuhause hatte.

Olivia: Was würdest du über mich denken, wenn du mich heute kennenlernen würdest?

Jutta: Ich würde mir denken, du bist eine sportliche, offene und lebensfrohe junge Frau.

Olivia: Ein schönes Bild. Warst du in meinem Alter auch offen und lebensfroh?

Jutta: Ich war in deinem Alter viel mehr Rebellin, als du. Ich musste mich viel verzweifelter wehren. Gegen jede Norm, gegen meine Eltern und diese tradierten, rigiden und völlig unhinterfragten Regeln die sie mir auferlegt haben. Ich wollte nicht ständig in ein Raster gezwängt werden. Wie siehst du mich heute?

Olivia: Immer noch wie eine Rebellin. Eine erfolgreiche Frau, selbstständig und eindrucksvoll. Eine liebe Mama aber streng, wenn es darauf ankommt.

Jutta: Wann war ich streng zu euch?

Olivia: Zum Beispiel war mir schon als Kind klar, dass ich Ausbildungen machen muss und nicht vor dem Master-Diplom aufhören kann. Das war in unserer Familie keine Option.

Immer noch wie eine Rebellin. Eine erfolgreiche Frau, selbstständig und eindrucksvoll.
Olivia

Jutta: Das stimmt, das war mir immer sehr wichtig. Ich war in meiner Familie die erste Akademikerin. Mein Doktorat hat mir in meinem Leben viele Türen geöffnet und meinem Selbstbild irrsinnig gutgetan. Das habe ich mir natürlich auch für meine Kinder gewünscht. Sonst war ich aber nie streng, oder?

Olivia: Naja, du hast uns früher immer erzählt, wir sollen bloß die Finger von Alkohol lassen, weil du uns den Alkohol am nächsten Tag an den Pupillen ablesen kannst. Stimmt das?

Jutta: An den Pupillen kann ich Alkohol nicht ablesen, nein.

Olivia: Das war also eine Lüge? Ich war immer so vorsichtig!

Jutta: Das war genau der Plan. Ich hatte auch immer einen Drogenschnelltest zuhause – nur für den Fall.

Olivia: Hast du dir das Muttersein so vorgestellt? Drogentests und kleine Notlügen? Welche Erwartungen hattest du als junge Frau an das Leben mit Kindern?

Jutta: Ich hatte relativ wenige Vorstellungen davon, um ehrlich zu sein. Ich wollte nur nicht, dass es so wird wie zwischen mir und meiner Mutter.

Olivia: Warum nicht?

Jutta: Die Beziehung war sehr distanziert. Meine Mutter hat mich nie als Mensch wahrgenommen, sondern immer nur als Kind. Wir haben nie tiefergehende Gespräche geführt, sondern immer nur besprochen, was ich tun und was ich lassen soll. Und alles wovor sie Angst hatte, das hat sie mir verboten.

Olivia: Ist es dir leichtgefallen, nicht so zu sein?

Jutta: Ich wusste schon als Kind, dass ich so nicht sein möchte. Ich hatte aber auch andere Startbedingungen als meine Mutter. Meine Mutter wollte kein Kind und für mich gab es seit eurer Geburt nichts Wichtigeres mehr. Mein Leben hat sich um euch gedreht. Das ist mir nicht schwergefallen, es hat mich sonst einfach nichts mehr interessiert.

Meine Mutter hat mich nie als Mensch wahrgenommen, sondern immer nur als Kind.
Jutta

Olivia: Ist es dir gelungen, die Beziehung zwischen dir und deiner Mutter nicht bei deinen eigenen Kindern zu wiederholen?

Jutta: Sag‘ du’s mir!

Olivia: Aus meiner Sicht, auf jeden Fall. Ich habe unsere Beziehung ganz anders in Erinnerung. Ich war immer schon ein Mama-Kind und ich wusste auch, dass es für dich nichts Wichtigeres als uns gibt. Schon allein, dass wir so zusammensitzen und dieses Gespräch führen können zeigt, wie vertraut unsere Beziehung ist.

Jutta: Was würdest du bei deinen eigenen Kindern mal anders machen?

Olivia: Nicht viel. Du warst immer sehr auf unsere Sicherheit bedacht – das habe ich manchmal als Enge empfunden, aus der ich mich freistrampeln wollte. Als erwachsene Frau weiß ich aber, wie wertvoll es ist, so eine Mutter zu haben. Wer weiß, wovor du uns bewahrt hast. Ich glaube, ich wäre als Mutter mindestens genauso vorsichtig.

Jutta: Ich war ab einem gewissen Zeitpunkt alleine für zwei junge Mädchen verantwortlich. Ich hatte tausende Ängste, was euch passieren könnte. Wenn ihr abends lange unterwegs wart oder an schwierige Partner geraten seid. Ich hatte einfach das Gefühl, euch stärker beschützen zu müssen. Es ist mir nicht immer leichtgefallen, euch los- und gehen zu lassen.

Olivia: Apropos schwierige Partner: Erinnerst du dich noch, als ich dir von meinem ersten Freund erzählt habe? Vielleicht ist endlich Zeit für ein paar ehrliche Worte von dir über diese Beziehung.

Schon allein, dass wir so zusammensitzen und dieses Gespräch führen können zeigt, wie vertraut unsere Beziehung ist.
Olivia

Jutta: Ich glaube auch – es sind ausreichend viele Jahre vergangen. Ich bin damals ziemlich erschrocken. Du warst 14 und er hatte ein Moped! Alles nichts, worüber sich eine Mutter freut. Ich wusste, das ist zu früh. Aber es zu verbieten hätte nur dazu geführt, dass ihr euch heimlich trefft. Dir etwas zu verbieten war schon immer relativ sinnlos.

Olivia: Vielleicht bin ich doch mehr Rebellin, als du mir zugestehst. Ist das vielleicht unsere größte Gemeinsamkeit?

Jutta: Ich habe generell das Gefühl, dass du mir sehr ähnlich bist. In vielen Belangen. Wir sind beide sehr akribisch mit Hang zum Perfektionismus. Wir teilen dieselbe Liebe für Musik und können uns irrsinnig emotional für gesellschaftliche Themen engagieren. Generell haben wir eine ähnliche Vorstellung davon, was ein gelungenes Leben ausmacht.

Olivia: Ich denke auch. Ich würde noch hinzufügen, dass wir beide stark zu Worst-Case-Szenarien tendieren, wenn wir unter Druck stehen. Optimismus fällt uns beiden schwer. Trotzdem erlebe ich unsere Beziehung heute überwiegend als positiv und leicht. Wie würdest du unsere Beziehung beschreiben?

Jutta: Zu unserer Beziehung heute fällt mir auch viel Gutes ein. Zwei Begriffe die mir in den Sinn kommen, sind «Vertrauen» und «Autonomie». Du bist emotional nicht von mir abhängig und das ist gut so. Alles was wir gemeinsam machen, basiert auf Freiwilligkeit und nicht auf irgendwelchen Ritualen. Natürlich war nicht immer alles gut. Unsere Beziehung ist über die letzten 30 Jahre gewachsen, mit allen Höhen und Tiefen. Das ist, was uns heute zusammenschweißt. Das Heranwachsen einer solchen Beziehung kann man nicht immer nur von der positiven Seite sehen.

Olivia: Mir fallen die Begriffe «warm», «Augenhöhe» und «vertraut» ein. Du sagst, unsere Beziehung ist in den letzten 30 Jahren gewachsen. Wie hat sie sich denn aus deiner Perspektive über die Jahre verändert?

Wir teilen dieselbe Liebe für Musik und können uns irrsinnig emotional für gesellschaftliche Themen engagieren. Generell haben wir eine ähnliche Vorstellung davon, was ein gelungenes Leben ausmacht.
Jutta

Jutta: Naja, sie hat sich vor allem mit deinen Bedürfnissen verändert. Weil sich ja die Bedürfnisse eines Menschen – vom Kleinkind zum Erwachsenen – andauernd ändern. Die Nähe verändert sich und auch die Mutterrolle. Ich muss nicht mehr ständig darauf schauen, wie es dir geht. Das ist bei kleinen Kindern anders. Und auch meine Persönlichkeit hat sich in den letzten 30 Jahren verändert.

Olivia: Das finde ich interessant. Du hast meine Persönlichkeit maßgebend mitgestaltet und mir viel Wichtiges für mein Leben mitgegeben. Du hast mir Gitarre spielen beigebracht, mir eine gute Ausbildung ermöglicht und mich in fast allen Lebensentscheidungen unterstützt – auch wenn ich heute weiß, dass dir das nicht immer leichtgefallen ist. Was hast du denn umgekehrt von mir gelernt?

Jutta: Eine gewisse Verwegenheit. Du hast mich immer wieder erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit du Dinge durchgezogen hast, bei denen ich vorher noch dachte, das kann unmöglich klappen. Dass du als 19-Jährige vier Jahre lang ins Ausland gegangen bist zum Beispiel, ohne große Krisen zu durchleben. Das fand ich damals ziemlich beachtlich.

Olivia: Danke, das tut gut. Ich dachte bisher, diese Eigenschaft ist eher eine Bürde für dich. Ich bin heute sehr dankbar für den Kosmos, den wir in unserer Familie geschaffen haben. Dass ich frei und ohne große Sorgen groß werden konnte und Raum hatte, für eine gewisse Verwegenheit. Wofür bist du denn dankbar, wenn du heute an uns denkst?

Jutta: Für alles. Wie du deine Ausbildung abgeschlossen hast und deinen Weg gehst. Und dafür, dass ich den Drogenschnelltest nie anwenden musste.

Autorin: Olivia Leth

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Ich liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ich glaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party. 


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