Hintergrund

Horgenglarus: So entsteht der Schweizer Klassiker

Bereits Le Corbusier wusste 1925 um die Besonderheit der Stühle von Horgenglarus. Bis heute werden sie fast in derselben traditionellen Weise hergestellt. Dabei spielt vor allem das Holzdämpfen eine wichtige Rolle.

Schon bevor ich eintrete, riecht es nach Holz. Ein Duft, der bei mir sofort ein Lächeln auslöst. Ein Gefühl kurzer, totaler Zufriedenheit stellt sich ein. Genau wie bei frisch gewaschener Wäsche, gemähtem Rasen oder offenem Feuer. Ich schaue über die Dächer hinweg und sehe schneebedeckte Berge. Den Glärnisch, um genau zu sein. In dem Moment ist es endgültig um mich geschehen. Dabei habe ich noch nichts von dem gesehen, wofür ich nach Glarus gekommen bin.

Haltbarkeit garantiert

Gekommen bin ich für die Stühle von Horgenglarus. Die Schweizer Originale, die bis heute von Hand gefertigt werden. Zu Beginn in Horgen, seit vielen Jahren in Glarus. Alles beginnt mit Buchenholz aus dem Jura, zumindest bei 70 Prozent der Stühle. Es darf auch einmal Eiche oder sogar Edelholz sein. «In der Schweiz gibt es ein Überangebot an Holz, weshalb es kein Problem ist, heimisches zu verwenden, wenn man Wert darauf legt», sagt Marco Wenger, CEO von Horgenglarus. Wert wird auch auf lange Haltbarkeit gelegt. Denn jeder Stuhl, sei er noch so alt, kann vom Kunden zur Reparatur nach Glarus gebracht werden. «Schau, der hier ist etwa um 1900 entstanden und benötigte nur einen neuen Schliff und eine Schicht Lack. Ansonsten hält der noch einwandfrei», so Wenger.

Auf Biegen und nicht Brechen

Das Geheimnis liegt im Biegen. «Wir fräsen Teile wie Stuhlbeine oder Sitzflächen nicht zurecht, sondern biegen sie aus einem geraden Stück Holz.» Genauer gesagt, Sepp Tschudi biegt sie. Der gelernte Sager in grauen Latzhosen sagt kein Wort zu viel, strahlt aber bei jedem einzelnen Sicherheit aus. «Für’s Biegen musst du das Holz verstehen.»

Denn wer nicht aufs Holz hört, sich die Maserung und Fasern nicht anschaut, dem wird das Holz brechen. «Es kann sein, dass die üblichen zwei Stunden bei 100 Grad im Dämpfer nicht reichen, weil die Holzfasern nur schwer Wasser aufnehmen. So etwas muss ich sehen», erklärt Tschudi in seinem breiten Glarner Dialekt. Ist das Holz ordentlich gedämpft, bleiben ihm genau fünf Minuten zum Formen. Mit einer Holzbiegemaschine und viel eigener Muskelkraft wird so aus einer Holzlatte ein runder Sitzrahmen in der Rohfassung. Nach zehn Tagen im Trockenraum, der den Duft einer finnischen Sauna verströmt, besitzt das Holz nur noch 4.8 Prozent Feuchtigkeit. Es ist bereit für die Weiterverarbeitung.

Auch die funktioniert mehrheitlich von Hand. Seit den 90er-Jahren gibt es eine programmierbare CNC-Fräse, ansonsten steht hinter jedem Schritt ein Mensch. Es wird Freihand zugeschnitten, Freihand mit dem Bandschleifer geschmiergelt, geleimt, zusammengeschraubt und lackiert. Sogar die haptische und optische Kontrolle übernimmt ein erfahrener Mitarbeiter. Bei 35 000 Stühlen pro Jahr sind nur 0.1 Prozent Retouren und 20 bis 30 Exemplare Ausschuss. Die werden dann an Mitarbeitende oder Leute aus der Region weitergegeben.

Müll wird vermieden

Generell produziert Horgenglarus nur sehr wenig Müll. «Wir entsorgen 200 Kilogramm Abfall pro Woche, wobei das meiste Pausenbrotverpackungen oder Ähnliches sind», sagt Wenger. Wasser können die Mitarbeitenden gratis in Gläser oder Flaschen abfüllen. Der Holzverschnitt wird zum Heizen der gesamten Produktionshalle sowie der Trockenräume und des Dämpfers benutzt. Auch das Verschicken der Stühle produziert kaum Abfall. «Die Stühle sind so robust, dass wie nur bei sehr empfindlichen Sondermodellen oder auf ausdrücklichen Wunsche des Kunden Verpackungsmaterial verwenden. Normalerweise bekommen sie nur einen Regenschutz.»

In diesem durchsichtigen Mäntelchen gekleidet, gehen die Stühle vom kleinen, mit schneebedeckten Bergen umringten Glarus in die ganze Welt und fristen dort ein langes Dasein. Ausser ein Autohersteller kauft 500 Stück für ein Event und bringt sie nach ein paar Tagen wieder zurück, da er keine Verwendung mehr dafür hat. Mir blutet das Herz. Bis mir wieder dieser betörende Holzgeruch in die Nase steigt. Ein Gefühl totaler Zufriedenheit breitet sich aus.

Weitere Bilder zum Herunterladen: https://www.galaxus.ch/MWS//Release/editorial/horgenglarus.zip

Horgenglarus Classic
Stühle
CHF595.30

Horgenglarus Classic

Dieser Beitrag entstand in der Zeit vor Social Distancing.

41 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.


Wohnen
Folge Themen und erhalte Updates zu deinen Interessen

Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

  • Hintergrund

    «Emily in Paris» auf Netflix: So holst du dir den Einrichtungsstil nach Hause

    von Pia Seidel

  • Produkttest

    Vom Unsichtbaren zum Must-Have: der erfolgreichste Schweizer Stuhl im Check

    von Pia Seidel

  • Produkttest

    Pias Picks: Das gelassene Gewebe namens Bouclé

    von Pia Seidel

7 Kommentare

Avatar
later