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Geschwister – Die längste Beziehung von allen

Ümit Yoker
20.11.2017

Dem Verhältnis von Geschwistern hat die Psychologie bis vor kurzem kaum Beachtung geschenkt. Dabei begleitet uns niemand länger durchs Leben als unsere Brüder und Schwestern. Eltern können das Band zwischen ihren Kindern stärken – aber auch strapazieren.

Was haben Psychologen nicht schon das schwierige Verhältnis von Töchtern zu ihren Müttern analysiert, was gibt es nicht an Ratgebern, die uns eine konstruktivere Streitkultur mit dem Partner ans Herz legen. Doch das Band zu denjenigen Menschen, die schon da sind, bevor wir uns zum ersten Mal verlieben oder Freundschaften schliessen und die uns noch begleiten, wenn unsere Eltern längst verstorben sind, blieb lange seltsam unerforscht. Dabei verbringen schon kleine Kinder oft mehr Zeit mit ihren Geschwistern als mit den Eltern; miteinander lernen sie zu spielen und zu trösten, zu streiten, zu teilen und zu verhandeln.

Verzogen, verschupft, verantwortungsbewusst

Kommen mittlere Kinder zu kurz? Wird das jüngste aus Prinzip verwöhnt und am ältesten stets das Pflichtbewusstsein gelobt? Welchen Einfluss es auf das Leben hat, wo man in der Geschwisterreihe steht, gehörte zu den ersten Forschungsfragen, denen sich die Psychologie schliesslich widmete, und es ist auch heute noch ein viel diskutiertes Thema. Ein paar Dinge lassen sich tatsächlich nicht ganz von der Hand weisen: Erstgeborene trifft man häufiger in Führungsfunktionen an als Spätergeborene, es gibt mehr von ihnen unter den Chirurgen, den Priestern und den Astronauten. Die ein, zwei oder drei Jahre, in denen älteste Kinder die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern haben, können sich also durchaus irgendwann als Steigbügel für eine spätere Karriere auswirken.

Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass ausgerechnet der sechstgeborene Mark Twain und etwas mehr als ein Jahrhundert später der elftgeborene Stephen Colbert den Humor als Schriftsteller beziehungsweise Comedian zu ihrer ganz grossen Stärke gemacht haben. Wenn alle Geschwister alleine schon dadurch, dass sie ein paar Jahre älter sind, besser schreiben, rechnen und laufen können als man selbst, sucht man sich vermutlich erst mal einen anderen Bereich zum Punkten.

Jedem seine Nische

Die Suche nach der Nische ist dabei eine durchaus nützliche Strategie, um sich in einer Familie seinen Teil der knappen Ressource namens elterlicher Aufmerksamkeit zu sichern, wie der Schweizer Psychologe Jürg Frick in seinem Buch «Ich mag dich – du nervst mich» sagt. Es sei jedoch wichtig, die Kinder immer wieder neue und unterschiedliche Rollen ausprobieren zu lassen. Denn viel prägender als die Geburtenfolge ist für ein Kind, wie es seine Rolle in der Familie erlebt.

Alltagsstreit und vergiftete Verhältnisse

Die meisten Eltern können ein Liedchen davon singen, und manchmal vielleicht auch schluchzen: Geschwister streiten. Oft. Doch ebenso handeln Brüder und Schwestern immer wieder neue Kompromisse aus, und meistens haben sie sich längst wieder versöhnt, bevor wir Eltern überhaupt verstehen, worum es im Handgemenge gerade ging. Ist die Beziehung unter Geschwistern aber nachhaltig gestört oder gar zerrüttet, tragen die Verantwortung dafür meistens die Eltern. Es gibt nichts, das so sehr einen Keil zwischen Geschwister treibt wie Mütter und Väter, die eines ihrer Kinder den anderen vorziehen oder gar zum Partnerersatz machen. «Das Bündnis mit einem Elternteil vergiftet die Beziehung der Geschwister praktisch immer», schreibt Frick. Warum? Kein Kind richtet seine Wut längerfristig auf seine Eltern, auch wenn es sich aussen vorgelassen fühlt. Schliesslich ist es von ihnen abhängig. Es wird stattdessen die Schuld bei der bevorzugten Schwester oder dem präferierten Bruder suchen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns nicht manchmal einem Kind näher fühlen oder zeitweise mehr Aufmerksamkeit schenken dürfen als den anderen. Schliesslich ist ein Neugeborenes in den ersten Lebensmonaten stärker auf seine Eltern angewiesen als sein grosser Bruder, und vielleicht leidet eine Mutter gerade besonders mit ihrer mittleren Tochter mit, wenn diese von ihren Schwierigkeiten erzählt, in der Schule Freunde zu finden, weil sie dies einst selbst erlebt hat. Kinder sind bestimmt nicht immer glücklich darüber, wenn der ältere Bruder länger aufbleiben darf oder das Geschwister mit einer Behinderung anders behandelt wird. Aber sie können sehr wohl damit umgehen lernen, wenn man ihnen die Gründe dafür erklärt und wenn ihnen die Ungleichbehandlung als gerechtfertigt erscheint, wie Frick schreibt. Es geht nicht darum, jedes Kind genau gleich zu behandeln - sondern gleichwertig.

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Journalistin und Mutter von zwei Söhnen, beides furchtbar gerne. Mit Mann und Kindern 2014 von Zürich nach Lissabon gezogen. Schreibt ihre Texte im Café und findet auch sonst, dass es das Leben ziemlich gut mit ihr meint.<br><a href="http://uemityoker.wordpress.com/" target="_blank">uemityoker.wordpress.com</a> 


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