Ernährungsexperte: «Manchmal müssen wir einfach mehr essen, um abzunehmen»
Wer sich auf Social Media über Ernährung informiert, gerät schnell in ein Labyrinth aus Ratschlägen und Verboten. Um etwas Licht ins Dunkel zu bringen, habe ich mich mit Gregory Grünig, Ernährungsdiagnostiker beim Erpse Institut, unterhalten.
Als Sportlerin will ich auf gute und gesunde Ernährung achten, keine Frage. Aber: Was ist eigentlich gute Ernährung für aktive Menschen? Die einen raten zum Intervallfasten, die anderen sagen, ich soll viermal am Tag essen. Bloss keine Kohlenhydrate, mahnen manche, zuckerhaltige Sportgels empfehlen die anderen. Ich bin verwirrt und suche professionelle Hilfe bei Gregory Grünig.
Gregory Grünig ist Fitnesstrainer und Ernährungsdiagnostiker beim Erpse Institut, das ich auswählte, weil sich das Institut speziell mit Ernährung für Sportlerinnen und Sportler beschäftigt. Die vom Erpse Institut angebotene Ernährungsdiagnostik analysiert Bewegung, Sport und psychologische Faktoren, um eine auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Ernährung zu empfehlen. Nachdem ich mich ausführlich untersuchen und beraten liess, habe ich noch einige Fragen an den Ernährungsexperten.
Mehr über meine Erfahrung bei den Tests und der Beratung erfährst du hier.
Essen und Sport werden immer wieder in Verbindung gebracht. Die einen machen Sport, um abzunehmen, die anderen achten aufs Essen, um ihre Leistung zu verbessern. Gibt es denn Dinge, die du Sportlerinnen und Sportlern allgemein empfehlen kannst?
Gregory Grünig: Wenn es etwas gibt, das allgemeingültig ist, dann ist es die Struktur «Kaiser, König, Bettler», also frühstücken wie ein Kaiser, zu Mittag essen wie ein König und zu Nacht essen wie ein Bettler. Aber da hört es schon auf. Alles andere ist von der individuellen Physiologie und Psychologie abhängig. Beispielsweise von der Frage, ob die Person gerade unter hohem Stress steht. Oder ob sie heute noch trainieren will oder gestern ein hartes Training absolviert hat.
Jetzt ist das Intervallfasten ja ein Trend, der mir fast täglich auf Social Media begegnet. In einer Variante des Intervallfastens wird empfohlen, in der ersten Tageshälfte nichts zu essen. Was hältst du davon?
Nichts bis gar nichts. Ich habe sicher schon fast wöchentlich jemanden hier in der Praxis, der bewusst oder unbewusst Intervall fastet. Bei der Spiroergometrie, bei der wir die Sauerstoffaufnahme als Kennzeichen der Funktion von Herz, Lunge und Kreislauf messen, werden schnell Engpässe deutlich. Es kann schon sein, dass sich im Ruhebereich die Sauerstoffaufnahme beim Intervallfasten verbessert hat und die entzündlichen Prozesse abgenommen haben. Aber sobald diese Person durch Stress im Alltag oder durch Sport in eine höhere Intensität gerät, wird die Leistung massiv schlechter und es entstehen Folgeprobleme wie Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden und Dünnhäutigkeit. Deshalb halte ich die Struktur von «Kaiser, König, Bettler» fast immer für den besseren Ansatz.
Was läuft im Körper beim Intervallfasten nicht optimal?
Wenn wir morgens aufstehen, ist der Glukosespeicher der Leber mehrheitlich leer. Gleichzeitig ist das Cortisol, ein Stresshormon, erhöht, damit wir wach werden. Wenn die Cortisolwerte erhöht bleiben, hat das einen negativen Einfluss auf unseren Körper. Ein kohlenhydrathaltiges Frühstück stabilisiert den Blutzucker und die Cortisolwerte sinken. Ein weiteres Problem beim Intervallfasten ist, dass bei vermehrtem Essen in der zweiten Tageshälfte in der Regel mehr Körperfett in der Körpermitte, also an Rumpf und Bauch, gespeichert wird. Inzwischen gibt es auch Studien, die deutlich zeigen, dass Intervallfasten eher zu einer Zunahme an Körperfett führt, weil die grösste Menge der Kalorien in der zweiten Tageshälfte aufgenommen wird. Abends und nachts brauchen wir aber nicht mehr so viel Energie, weil wir nicht mehr so aktiv sind.
Was ist denn dran an der Gleichung: weniger Kalorien und mehr Bewegung gleich Gewichtsabnahme?
Ernährung ist viel komplexer als diese einfache Gleichung. Viele Menschen, die zu uns in die Beratung kommen, essen zu wenig Kalorien für ihren Stoffwechsel, nehmen aber nicht ab oder sogar zu, möglicherweise, weil sie zu viel Stress haben und überlastet sind. Pauschal ein Kaloriendefizit zu empfehlen, halte ich für Unsinn.
Gibt es denn Situationen, in denen jemand mehr essen muss, um abzunehmen?
Ja, durchaus. Es kommt darauf an, wo man abnehmen will. Wenn jemand an Armen und Beinen abnehmen will, kann es hilfreich sein, mehr Kalorien aufzunehmen, weil es in solchen Fällen häufig um die Regeneration der Muskulatur geht und die Muskeln sich besser erholen, wenn ausreichend Nährstoffe vorhanden sind. Auch wenn jemand zu wenig isst und der Körper deshalb unter Stress steht, empfehlen wir manchmal, mehr zu essen.
Welche Faktoren erschweren das Abnehmen?
Stress ist sicher der wichtigste Punkt. Stress kann die Insulinsensitivität mindern. Das bedeutet, dass die Muskelzellen die Kohlenhydrate nicht richtig aufnehmen können und diese dann in Form von Fett gespeichert werden. Dort, wo sie gebraucht werden, stehen sie nicht zur Verfügung. Für die Energiegewinnung wird dann als Ersatz Eiweiss aus dem Blut und allenfalls auch aus der Muskulatur herangezogen. Beim Training, vor allem wenn es intensiv ist, sollten wir aber nicht in einen abbauenden Zustand geraten. Zudem führt der Abbau von Eiweiss wieder zu einer erhöhten Ausschüttung von Stresshormonen. Es ist also eine Abwärtsspirale. Zusätzlich wird Wasser ausserhalb der Zellen eingelagert. Das führt zu Gewichtszunahme. Wenn Sporttreibende sich zwischen den Trainingseinheiten nicht ausreichend erholen, weil sie vielleicht schlecht schlafen oder im Alltag Stress haben, kommt es zu vermehrten Wassereinlagerungen, Gewichtszunahme und dem Gefühl von schweren Beinen.
Wie merke ich denn, wenn ich zu viel Stress habe?
Tatsächlich merken viele Menschen nicht, wenn sie zu viel Stress haben. In so einen Zyklus von Überbelastung und mangelnder Erholung können Sportlerinnen und Sportler geraten, ohne gefühlt viel falsch zu machen. Wenn die Messungen anzeigen, dass die Erholung und damit die Anpassung auf das Training nicht optimal ist, sagen viele, dass sie ja keinen Stress haben. Aber da muss man unterscheiden: Vielleicht schläft jemand schlecht oder hat eine belastende Situation im Alltag oder Beruf. Es kann aber auch sein, dass das Herz-Kreislauf-System oder die Muskeln durch den Sport zu stark belastet sind. Oder dass der Körper durch zu wenig Essen im Verlauf des Tages – Stichwort Intervallfasten – in eine Stresssituation kommt. Gerade wer im Sport einen Ausgleich sieht und es dann übertreibt, kann in diesen Zyklus geraten. Viele spüren nicht, dass sie in einer Stresssituation sind, weil der Kopf das nicht wahrnimmt oder denkt, allen Ansprüchen von aussen gerecht werden zu müssen. Wenn ich einem ambitionierten Sportler sage, er trainiere zu viel, dann antwortet er oft, zu viel trainieren ginge ja gar nicht. Es geht aber doch. Alles kann zu viel sein.
Gute Ernährung ist also nur ein Faktor im Zusammenspiel von Körper und Geist?
Psychologische Faktoren spielen eine grosse Rolle. Da gibt es die Prägung aus der Kindheit und Jugend, die Grundzüge wie Sicherheitsbedürfnis und Kontrolle beeinflussen. Diese Bedürfnisse beeinflussen den Energiehaushalt im Alltag. Das Mindset spielt eine grosse Rolle bei der Frage, wann wir in welchen Situationen wie viel Energie aufwenden. Denn nicht nur die Muskeln, sondern auch das Gehirn braucht viele Nährstoffe, insbesondere Glucose. Wenn es Dysbalancen gibt zwischen energiegebenden und energieraubenden Bedürfnissen, dann kann das auch zur Gewichtszunahme führen. Es gibt Menschen, die machen in Bezug auf ihre Ernährung eigentlich alles richtig und haben trotzdem Probleme, weil die Überbelastung aus ihrem Mindset resultiert. Das ist dann über Ernährungstipps praktisch nicht lösbar, wenn man nicht weiss, wo man den Hebel ansetzen muss. Das ist so, als würde man mit dem Auto zum Metzger fahren und ihn bitten, das Auto zu reparieren. Das kann er nicht. Die Grundidee ist deshalb, herauszufinden, wo die Ursachen des Problems liegen und dann die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Gerade im Sport wird sehr stark auf die physiologischen Faktoren geschaut. Wir müssen aber auch die psychologischen Faktoren miteinbeziehen, wenn wir wirklich positive Veränderungen erzielen wollen.
Was heisst das konkret?
Sportler und Sportlerinnen müssen sich abgrenzen können, wenn eine Überbelastung vorliegt. Das heisst, entweder bei der Arbeit oder im Alltag zurückfahren oder beim Sport reduzieren, damit der Energiehaushalt wieder in eine Balance gerät. Viele haben leider immer noch das Gefühl, funktionieren zu müssen, egal wie kaputt sie sind. Das kann eine gewisse Zeit lang gut gehen, aber meistens gibt es eine Sollbruchstelle im Körper. Das kann der Darm, die Haut oder die Lunge sein. Das klingt komplex, aber in der Beratung zeigt sich schnell, wo das Problem liegt. Die Frage ist dann, kann oder will man es momentan ändern.
Jetzt gibt es ja immer mehr Lebensmittelunverträglichkeiten. Wie passt das ins Bild?
Jedes Organ hat einen eigenen Stoffwechsel und wenn insgesamt die Sauerstoffversorgung nicht optimal ist, dann ist möglicherweise ein Engpass im Verdauungssystem die Folge. Wenn der Darm zu wenig Sauerstoff bekommt, kommt es vermehrt zu anaeroben Prozessen mit Laktat- und Säurebildung. Wenn der Darm dann zusätzlich über die Nahrung gestresst wird, kann es zu Unverträglichkeiten oder anderen Verdauungsbeschwerden kommen. Idealerweise setzen wir dann bei der Ernährung und beim Training an. Durch das Training können wir den Stoffwechsel optimieren, so dass wir mehr Sauerstoff aufnehmen. Durch die richtige Ernährung und das richtige Timing können wir das Training so beeinflussen, dass es wirkliche Verbesserungen bringt. Es ist ein Zusammenspiel der Faktoren Ernährung, Mindset, Training und Erholung. Alle vier sind wichtig, wenn wir den Stoffwechsel optimieren und Verbesserungen erzielen wollen.
Es gibt aktuell die Tendenz, bestimmte Lebensmittelarten zu verteufeln. Beispiel Zucker. Was hältst du davon?
Das Schöne ist, es hat eigentlich alles Platz in der Ernährung. Natürlich, die Dosis macht das Gift. Wenn wir im Sommer ein Glacé essen oder zwischendurch Schokolade, geht die Welt nicht unter. Zucker ist auch sinnvoll in der Sportlerernährung. Unter Belastung verbrennt der Körper Zucker und deshalb sollten wir auch wieder Zucker zuführen, weil diese Art der Energie am schnellsten verfügbar ist und das Magen-Darm-System nicht unnötig belastet. Vor, während und vielleicht auch mal nach dem Sport kann man Zucker, beispielsweise in Form eines Gels oder gesüssten Elekrtolytgetränks zu sich nehmen, aber sonst gehört Zucker nicht auf den Speiseplan.
Stichwort Mangelerscheinungen. Im Freundeskreis oder in den Sozialen Medien werden schnell einmal Magnesiumtabletten, Vitamin-D-Tropfen und andere Nahrungsergänzungen empfohlen. Braucht es diese Zusatzstoffe?
Es macht wenig Sinn, einfach Vitamin D oder ein Multivitamin zu nehmen, weil man annimmt, dass es gesund ist. Auch Bluttests sind häufig schwer zu interpretieren. Denn die Blutzusammensetzung ist täglichen Schwankungen unterworfen und ein Magnesiummangel kann morgen schon wieder ausgeglichen sein. Wenn Mangelerscheinungen da sind, muss man dem Ganzen auf den Grund gehen. Aber einfach auf Verdacht Nahrungsergänzungsmittel zu nehmen, ist keine gute Idee. Viel besser ist es, auf eine nährstoffreiche Ernährung mit frischen Zutaten zu achten und bei Bedarf auch mal gezielt ein Supplement einzusetzen, das dann in dem jeweiligen Fall auch angemessen und sinnvoll ist.
Du gehst also immer vom Individuum aus und von den Daten, die du im konkreten Fall misst. Gibt es trotzdem etwas, was fast alle falsch machen?
Ich würde sagen, dass die meisten Sportlerinnen und Sportler völlig unterschätzen, wie viel Kalorien sie benötigen. Da spielen auch Sportuhren eine Rolle, die häufig einen zu tiefen Kalorienbedarf angeben. Das kann tatsächlich eine Essstörung auslösen. Wenn wir Sport treiben, sind wir physiologisch im Jagdmodus und das ist gleichbedeutend mit Stress. Ohne ausreichende Nahrung können wir nicht die Fortschritte erzielen, die wir eigentlich erreichen wollen. Oft kommt dann noch Heisshunger auf Süsses und verstärkter Hunger in der zweiten Tageshälfte dazu. Der andere häufige Fehler ist, dass wir zu viel trainieren. Wir wollen bessere Leistungen erzielen, also machen wir mehr. Das ist aber oft der falsche Weg. Manchmal müssen wir besser regenerieren und manchmal einfach mehr essen.
Vielen Dank für das Gespräch, Gregory.
Titelfoto: Oliver Fischer
Forschungstaucherin, Outdoor-Guide und SUP-Instruktorin – Seen, Flüsse und Meere sind meine Spielplätze. Gern wechsel ich auch mal die Perspektive und schaue mir beim Trailrunning und Drohnenfliegen die Welt von oben an.