Ein Helfer wird sichtbar
Hintergrund

Ein Helfer wird sichtbar

Thomas Kunz
17.4.2020

Seine Arbeit als Lehrer sowie diverse Nebenjobs kann er aktuell nicht ausführen. Kein Grund für Alessandro, sich Sorgen um sich selbst zu machen. Er hilft lieber anderen und hat mit seiner Idee mittlerweile über 220 Helfer angesteckt.

Wir sitzen in der Gartenlounge von Alessandros Elternhaus in den Hügeln von Köniz – natürlich in angemessener Distanz. Im Hintergrund plätschert ein Brunnen. Es ist idyllisch und ruhig hier. Ruhig ist auch Alessandro. Der bodenständige junge Berner hätte eigentlich allen Grund zur Besorgnis. Er hat vor kurzem die Matura abgeschlossen. Seither arbeitet er als Aushilfslehrer im Stundenlohn. Jobbt bei einer Sicherheitsfirma und ist im Feuerwehr- und Sanitätspostendienst aktiv. Bis der Bundesrat am 13.3.20 den Teil-Lockdown beschliesst.

Das Telefon klingelt. Alessandro nimmt den Hörer ab und antwortet mit einer ruhigen, freundlichen Stimme: «Chioccarello von Chüniz hiuft, wie kann ich helfen?» Eine Frau, die der Risikogruppe angehört, ist am anderen Ende und benötigt Hilfe. Sie fragt nach Medikamenten einer bestimmten Apotheke. Er nimmt ihre Angaben auf, erklärt ihr den Ablauf und sie verabschiedet sich dankend.

So fing alles an

Der 20-Jährige ist trotz Arbeitslosigkeit nicht arbeitslos. Sein erster Gedanke galt nicht sich selbst, sondern war: «Wie kann ich helfen?» Online sucht er nach Möglichkeiten, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Via Twitter-Aufruf landet er bei der Facebookseite «Gärn gschee - Bärn hiuft». Darauf kontaktiert er ein paar andere Helfer aus Köniz. Zusammen stellten sie fest, dass es noch keine Whatsapp-Gruppe für die Gemeinde Köniz gibt.

Mehr als Eine Whatsapp-Gruppe

Alessandro gründet im Anschluss eine eigene Whatsapp-Gruppe: «Chüniz Hiuft». Diese teilt er mit den anderen Helfern und auch auf der Facebookseite «Gärn gschee - Bärn hiuft». Gleichzeitig kreiert er einen Nachbarschaftsbrief mit E-Mail und Telefonnummer, der in der Gemeinde aufgehängt wird. Er erzählt mit Stolz und Freude, dass die Helferanzahl innerhalb weniger Tage rasant gewachsen sei. Anfragen für Hilfebedürftige aus der Gemeinde Köniz werden nun alle über diesen Chat abgewickelt. Bei 60 Helfern in einem Chat wird es aber schnell unübersichtlich. Zu viele Nachrichten, zu viele verschiedene Themen.

Weiterentwicklung

Alessandro wendet sich als Koordinator der «Chüniz Hiuft»-Gruppe an den nationalen Austausch von «hilf-jetzt». Daraufhin meldet sich Yannik Tschan. Ein Entwickler, der seinen Job aufgrund einer Reise kündigte. Weil das mit dem Reisen gerade nicht möglich ist, programmiert Yannick stattdessen ein Tool für die Nachbarschaftshilfe. Das Tool funktioniert einwandfrei, hat aber anfangs noch datenschutztechnische Mängel. Über Nacht werden diese vom Entwickler beseitigt. Das Tool ist seither im Betrieb. Die Helfer können sich auf Google Form registrieren und erhalten anschliessend Zugang zur Codito-Seite.
Aufträge werden dort von den Koordinatoren mit einem kurzen Beschrieb freigeschalten und können von den Helfern angenommen werden.

Eine Woche nach dem Start der Nachbarschaftshilfe «Chüniz Hiuft» kommt auch die Gemeinde Köniz auf Alessandro zu. Die Gemeinde ist vom System und der Geschwindigkeit beeindruckt. Sie unterstützen das Projekt mit weiteren Ressourcen. Sie teilen das Projekt auf ihrer Webseite und organisieren Plakate und Flyer. Mit der Gemeinde im Rücken wird die Nachbarschaftshilfe vielen weiteren Haushalten zugänglich gemacht. Alessandro steckt viel Arbeit in das Projekt. «Ich trage gerne Verantwortung, weshalb mir das Ganze keine Umstände bereitet.» Er betont aber auch, dass er sich nie habe aufdrängen und in den Vordergrund stellen wollen. Man glaubt ihm sofort.

Wie die Helfer helfen

Aktuell hat die Nachbarschaftshilfe 220 registrierte Helfer und unterstützt circa 120 Haushalte in der Gemeinde Köniz. Die Anzahl der Hilfebedürftigen steigt aber täglich um acht bis zehn Haushalte. In dem von Alessandro entwickelten System wird den Helfern viel Verantwortung übertragen. Funktioniert beim ersten Auftrag für einen hilfebedürftigen Menschen alles reibungslos, bleiben beide Seiten in Kontakt. Ab dann wird alles weitere bilateral besprochen. So wird der Koordinator entlastet und zudem wird Vertrauen zwischen den beiden Parteien aufgebaut.

Die meisten Aufträge sind einfach: Lebensmittel- oder Medikamenteneinkauf. Zwischendurch sind es auch einmal Spaziergänge mit Hunden. Es gibt aber auch spezielle Anfragen. «Eine Person hat um 11:45 Uhr angerufen und wollte einen Salat für ihr Mittagessen», erzählt Alessandro. Solche spontanen Anfragen können die Helfer nicht ausführen. In der Regel werden alle Aufträge innerhalb von 48 Stunden ausgeführt. Ausser natürlich es handelt sich um Notfälle, dann ist schneller jemand zur Stelle.

Unterdessen knallt die Mittagssonne in den Garten. Es wird heiss. Der Brunnen plätschert sorglos weiter. Auch Alessandro lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er ist stolz auf das Projekt und erzählt gerne davon. Im gleichen Atemzug aber bedankt er sich bei allen freiwilligen Helfern. Ihm liegt die Sache am Herzen, nicht die eigene Eitelkeit. Ganz beiläufig erzählt er, dass er ab Herbst in Zürich an der ETH ein Studium beginnt, aber noch keine Bleibe habe. Vielleicht kann bei diesem Problem einmal dem Helfer geholfen werden …

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Als Fotograf, Mensch und Papa erzähle ich Geschichten so nahe am Leben wie möglich. Mit all ihren Ecken, Emotionen und Einzigartigkeiten.


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