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Der TGV: Mit 317 Kilometern pro Stunde nach Paris

Kein Zug der Welt ist so schnell wie der TGV. Die Reise mit dem Zug, der einst mal orange war, ist ein Bubentraum. Dieser ist jetzt in Erfüllung gegangen.

Die Elektromotoren summen, ich stehe vor dem Zug, der mich nach Paris bringen wird. Doch so spannend Paris auch sein mag, das ist nicht das Highlight der Reise. Denn mit dem Trip im TGV geht für mich ein Bubentraum in Erfüllung.

Als Kind hatte ich so eine Angewohnheit: Ich habe Dinge auswendig gelernt. Verkehrsschilder, Automarken, Züge. Darunter der Shinkansen, der einen richtig langen Namen hat und der TGV. Das Bild in meinem Buch hat einen orangen Zug gezeigt, der der schnellste in Europa sei. Damals in den 1980ern. Europa war damals zwar emotional recht weit von der Ostschweiz entfernt, aber Japan war noch weiter.

Der TGV wie ich ihn aus meiner Bubenzeit kenne
Der TGV wie ich ihn aus meiner Bubenzeit kenne
Quelle: Railpictures.net / Ian Leech

Ich fasste einen Entschluss: Ich würde mit dem TGV fahren.

Ich mag Züge

Die Jahre sind ins Land gezogen, der Bubentraum verblasst. Doch die Faszination für Züge bleibt. China Miévilles Buch «Railsea» gehört zu meinen Lieblingsbüchern. Ich mag das Buch sogar so gut, dass ich eine Landkarte der Railsea erarbeite, wenn ich gerade Zeit und Lust habe.

Im Roman heuert der junge Sham ap Soorap auf einem Mole Train an, einem Zug der auf einem endlosen Schienenmeer gigantische Maulwürfe jagt. Die Geschichte hat nicht zufällig Ähnlichkeit mit Herman Melville's «Moby Dick». Aber die «Medes», der Mole Train auf dem Sham lebt, hat es mir mehr angetan als die «Pequod» Melvilles. Denn ich mag Züge. Keine Ahnung, weshalb. Ich habe sogar einen Soundtrack für das Buch.

Lesetipp: China Miévilles Railsea.
Lesetipp: China Miévilles Railsea.
Quelle: Fanart von Leighton Johns

Die schlangenartigen Maschinen mit hunderten, wenn nicht tausenden Leuten in ihrem Bauch, sind faszinierend. Die Bombardiers, Schindlers und Alstoms der SBB, der Shinkansen, die U-Bahnen Barcelonas und Torontos… und irgendwo ganz an der Spitze der TGV.

Ich bin keiner, der Züge, deren Entwicklung und all das Zeug regelmässig verfolgt. Aber jedes Jahr, wenn die SBB ihren Jahresfahrplan veröffentlicht, schaue ich mir die neuen Routen an und sehe, wo sie einige Sekunden eingespart haben. Die goldenen Gleise 31-34 am Zürcher Hauptbahnhof waren Pflichtbesuch nach der Eröffnung, aber im Alltag beachte ich die Züge fast nicht. Ich fahre S-Bahn wie tausende Pendler auch, rege mich über drei Minuten Verspätung auf und freue mich über Stellwerkstörungen in Effretikon.

Doch es sind Maschinen wie der TGV, die mich auch nach all den Jahren des erwachsenen Zynismus und der Abgeklärtheit sowie der systematischen Demystifizierung des Alltags immer noch staunen lassen.

Im Bauch der Schlange

Am Morgen um 07:34 Uhr geht die Reise los. Am Zürcher Hauptbahnhof besteige ich den TGV nach Paris Gare de Lyon mit gemischten Gefühlen. Denn so recht stimmt das Bild nicht. Der TGV Lyria, das neueste Modell in der Serie, ist nicht mehr leuchtend orange, sondern dreckig weiss. An den Wagons und der Lok sind Bilder von Tennisbällen und der Name «Stan» aufgeklebt. Der Kommerz und die Ausschlachtung von Namensrechten macht auch nicht vor einem Bubentraum halt. Schade. So gut Stan Wawrinka auch sein mag, ich will ihn wirklich nicht auf meinem TGV sehen, auf dem Zug, von dem ich schon seit ziemlich genau drei Jahrzehnten träume.

Der Zug ist auf lange Reisen ausgelegt

Das Innere des Zuges ist ganz anders, als ich mir das vorgestellt habe. Wo die Pendlerzüge der Zürcher S-Bahn eng und unbequem sind, macht der TGV Lyria einiges her. Der Zug des SNCF, des Service Nationale de Chemins de Fer, ist auf lange Reisen ausgelegt. Die erste Klasse hat breite Sitze und bietet erstaunlich viel Beinfreiheit. So lässt es sich die vier Stunden von Zürich nach Paris aushalten. Einer, der vor mir mit dem Zug gereist ist, hat wohl im Sitz geschlafen und gesabbert. Die Spuren sind noch auf meinem Kopfkissen zu sehen.

Der Zug fährt ab. Kein Ruckeln, kein Knirschen in den Gelenken des Zuges. Der TGV hat Kraft. Das Modell TGV POS in dem ich sitze hat mehrere Lokomotiven in der Formation, die alle den Zug antreiben. Der Modellname ist etwas unglücklich gewählt, da «POS» im Englischen die Abkürzung für «Piece of Shit» ist. Beim TGV steht das aber für «Paris-Ostfrankreich-Süddeutschland». Okay.

Der schnellste Zug der Welt

Der Bub in mir hat Freude, denn ich lerne allerlei über den Zug. 200 Meter und 19 Zentimeter lang ist die Formation, die zwei Lokomotiven haben gemeinsam eine Kraft von 12 900 PS, eine unheimliche Kraft. Dazu kommt: Der Zug, in dem ich sitze, ist der schnellste Zug der Welt. Denn TGV steht für Train à Grande Vitesse. Also «Hochgeschwindigkeitszug». Im Deutschen ist die Geschwindigkeit in der Regel zwar «hoch», aber bei den Franzosen ist sie «gross».

Den Geschwindigkeitsrekord bricht der TGV heute nicht, das weiss ich. Aber der TGV POS war Teil der «Operation V150». Die Zahl im Namen des Rekordversuchs steht für die Meter pro Sekunde, die der Zug unter idealen Bedingungen zurücklegen soll. Zwischen dem 15. Januar und dem 15 April 2007 wurde der TGV auf einer 140 Kilometer langen Strecke zwischen Prény und Champagne-Ardenne getestet. In dieser Zeit hat der Zug den 1990 ebenfalls von einem TGV aufgestellten Rekord mehrfach eingestellt. Die Spitzengeschwindigkeit des POS lag bei 574 Kilometern pro Stunde.

Immerhin, zwischen Zürich und Paris bolzen wir höchstens mit 317 Kilometern pro Stunde durch die Landschaft. Auf dem Schweizer Schienennetz kriegt kein Zug dieses Tempo hin. Wenn ich mich recht entsinne, so liegt der schnellste Streckenabschnitt der Schweiz zwischen Zürich und Bern, wo Züge bis 200 Kilometer pro Stunde zurücklegen.

Kurz nach der schweizer-französischen Grenze geht es los. Der Zug beschleunigt. Wirklich bemerkbar ist das nicht, aber ich höre den Wind, der sich in den Winkeln zwischen den Wagons verfängt und pfeifend an der Aussenwand des Zuges abzieht. Die Gegend fliegt am Fenster vorbei. Der Steward, der mir das Frühstück serviert, tut nicht dergleichen, bemerkt aber, dass wir auf dieser Strecke unsere Höchstgeschwindigkeit erreichen. Der Zug wird immer schneller.

Dann ist der Geschwindigkeitsrausch vorbei. Mit Croissants – avec ou sans chocolat – auf dem Tischli vor mir, wird der Zug langsamer. Wie langsam, weiss ich nicht genau, denn nach den 317 Kilometern pro Stunde wirkt sogar 200 langsam. Aber Frankreich zeigt vor dem Fenster sein Gesicht. Häuschen aus alten Steinen gebaut, Wiesen, Wälder.

«Ça y est! On arrive. C'est la gare de Lyon?»

Die Fahrt von Zürich nach Paris dauert vier Stunden und ein paar Minuten. Angenehme vier Stunden. Denn wenn der Wind nicht pfeift, rollen die 12 000 Pferdestärken fast schon gemütlich mit über 100 Kilometern pro Stunde durch die Landschaft.

Bei der Einfahrt in den Pariser Gare de Lyon erinnere ich mich an meine erste Lektion Französisch. Im Lehrbuch «On y va» reisen die Geschwister Simone und François, mit Cousin René, nach Paris. Bei der Einfahrt fragt Simone, «Ça y est! On arrive. C'est la gare de Lyon?»

René, Simone et François vont à Paris
René, Simone et François vont à Paris
Quelle: zVg

Ja, das ist der Gare de Lyon. Ich bin angekommen. Der Tag holt mich ein. Es gilt, einen Pressetermin wahrzunehmen. Aber irgendwie ist meine Laune unverwüstlich, denn nach fast 30 Jahren habe ich es geschafft: Ich bin mit dem TGV gefahren.

Kleiner Nachtrag zum Thema «On y va»

Wenn es dir ähnlich geht, wie es mir einst ging, und du dich fragst, was aus den Protagonisten des «On y va» geworden ist, dann habe ich Antworten. Denn schon damals, als ich mit dem Buch gelernt habe, haben sich Gerüchte um den Verbleib der drei jungen Menschen gerankt. Ich bin dem in meiner Zeit beim St. Galler Tagblatt auf den Grund gegangen. Und wenn du den Dialogue aus der ersten Lektion wieder mal lesen willst, den habe ich für dich damals abgetippt. Und dem wohl legendärsten Satz «Simone reste baba» habe ich auch noch einige Zeilen gewidmet.

Simone reste baba
Simone reste baba
Quelle: zVg

Die Kurzfassung, für all jene, die nicht meine alten Artikel lesen wollen:

  • René ist Augenarzt in Zürich Oerlikon
  • René heisst in Wirklichkeit Holger Schramm
  • François hiess in Wirklichkeit Urs Hauser
  • Urs Hauser ist 2005 an einer Krebserkrankung gestorben
  • Simone hiess Anita Rohrer
  • Anita Rohrer ist 1991 ums Leben gekommen

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Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.

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