
Hintergrund
«Als Visagistin habe ich viel Abfall produziert – dahinter konnte ich irgendwann nicht mehr stehen»
von Natalie Hemengül
Ruedi Karrer besitzt eine der grössten Jeanssammlungen weltweit. Warum er «niemals» einen Denim-Stoff waschen würde und in welchen Momenten er ohne unterwegs ist, erzählt er uns im Interview.
Wie ein Blitz rennt Ruedi Karrer in den fünften Stock. Dabei nimmt er gleich zwei Stufen auf einmal. Fotograf Thomas Kunz und ich kommen ihm kaum nach, obwohl er (aufgerundet) fast doppelt so alt ist wie wir. Im Dachstock angekommen, wo sich sein Jeansmuseum befindet, geht es gleich zur Sache. Ohne Punkt und Komma beginnt er über seinen ganzen Stolz zu sprechen: Denim. Genauer gesagt, «Raw Denim». Die Augen des selbst ernannten «Swiss Jeans Freak» leuchten, wenn er von seiner Jeanssammlung spricht, die mittlerweile fast schon 15 000 Stück umfasst.
Wie behältst du bei den vielen Schachteln den Überblick?
Ruedi Karrer, Jeans-Sammler: Das ist gar nicht so einfach. Die ersten 2 000 Stück sind sortiert – hauptsächlich Hosen und Jacken. Die restlichen 12 000 sind noch in Arbeit. Ich ordne meine Ware nach Marken, Alter und ob eine Jacke (un-)gefüttert ist. Mittlerweile habe ich eine Datenbank erstellt. Das hilft, wenn ich Museen, Messen oder Ausstellungen einzelne Stücke ausleihe.
Wann ist eine Denim spannend für dich?
Geschenke nehme ich jederzeit an, auch Kaufhausmodelle. Viele Jeansfirmen beliefern mich mit Neuheiten. Die Schwierigkeit besteht darin, an getragene Modelle mit Patina (das sind Gebrauchsspuren) ran zu kommen. Meine Leidenschaft gilt der Raw Denim. Die sind für die Besucher meiner Ausstellung spannender anzusehen.
Was genau versteht man darunter?
Raw Denim ist ein nicht vorgewaschener und unbehandelter Stoff, der hart wie ein Brett ist. Typisch ist seine graublaue Färbung. Erst durch das regelmässige Tragen passt sich der Stoff individuell an deine Körperform an und erhält seine Patina – sprich: Scheuerstellen und Faltenwurf. Nach ungefähr 200 Trag-Tagen ist das der Fall.
Dann kaufst du jede Jeans doppelt?
Ja, sofern das möglich ist. Nur so kann ich meinen Besuchern den Vorher-Nachher-Effekt zeigen. Wie sich eine Jeans beim Tragen verändert, ist das Spannende am Ganzen.
Wie fing alles an?
Ich wuchs in einer Grossfamilie in einem kleinen Dorf im Bündnerland auf. Wir waren so arm, dass wir auf Kleiderspenden angewiesen waren. Eines Tages bekamen meine Brüder und ich zwei Paar Levi’s-Jeans. Bis dahin kannte ich nur die braunen Manchester-Hosen. Seither trage ich nur noch Denim. Damals musste ich die beiden Levi’s-Hosen noch mit meinen Brüdern teilen. Als Nummer vier benötigte ich viel Durchsetzungsvermögen, der Stoff gab mir Kraft und verkörperte für mich eine Form der Rebellion.
War dein Jeans eine Art Superman-Kostüm?
Ich war sehr schwach, ein Frühchen und mein nächst jüngerer Bruder kam noch vor meinem ersten Geburtstag zur Welt. Auf dem Klassenbild in der Sekundarschule sah ich neben all meinen pubertierenden Gspänli wie ein kleiner Bub aus. Mit 22 war ich voll ausgewachsen – besser spät als nie (lacht). Die Jeans war in dieser Zeit eine Art Schutzhülle, in der ich mich stark fühlte und die mich nach aussen frecher und aufmüpfiger erscheinen liess.
Wie ging’s weiter?
Das Sammeln ging während meines Studiums, für das ich nach Zürich zog, weiter. Bis mein WG-Zimmer und der Keller aus allen Nähten platzte. Ich entschloss mich, ein kleines Privatmuseum zu eröffnen. 2001 war es soweit. Darin findest du Hosen von A wie APC und Z wie Zara. Mein ältestes Modell ist von Carhartt und stammt aus den 20ern. Meine Sammlung umfasst heute über 14 000 Stück.
Warum ein Museum?
Markenunabhängige Denim-Museen gibt es bisher noch nicht. Das sind dann eher Firmenarchive von Marken wie Levi's und Mustang. Mein Jeansmuseum ist auf Anfrage öffentlich zugänglich. Mit meinem Wissen will ich vor allem junge Menschen dafür sensibilisieren, zu den dunklen eher langweiligen Raw Denim Modellen zu greifen und diese zu rocken. Die sind aber oft ungeduldig. Für Abnutzungsspuren müssen sie nur in einen Laden gehen und sich mit einem billigen Modell eindecken, das nach ein paarmal tragen ausleiert.
Wie finanzierst du das Ganze?
Ich arbeite als Geograf für den Kanton Zürich. Mein Budget ist 20 000 Franken pro Jahr, die ich aus meinem eigenen Sack bezahle. Die Hälfte davon geht für die Raummiete drauf. Die andere Hälfte gebe ich für neue Modelle und Messen aus. Bisher habe ich noch kein Sponsoring – daran arbeite ich. Mein Konzept steht, dafür benötige ich einen grösseren Ausstellungsraum à rund 500 Quadratmeter (heute sind es nur 140 Quadratmeter).
Wie viele Jeanshosen trägst du privat?
Ich trage immer dieselben zwei bis drei Paar, die ich im Wochentakt wechsle. Zurzeit trage ich ein Modell von Nudie und eines von Benzak. Beide muss ich noch rund ein Jahr tragen, bis die beanspruchten Stellen verblassen und dadurch eine lebendige Patina entsteht.
Dein Trag-Rekord?
Meine Iron Heart Hose habe ich 1 002 Tage getragen – natürlich nicht am Stück. Dafür ohne sie jemals zu waschen. Um auf so viele Tage kommen, benötigst du mehrere Jahre, da du dieses eine Modell nicht nonstop anhast.
In welchen Momenten trägst du keine Jeans?
Ich trage immer Jeans, auch an Beerdigungen und Hochzeiten, dann aber die gepflegten Modelle. Meine Freunde würden sich wundern, wenn es anders wäre. Im Bett verzichte ich darauf. Auch beim Sport und beim Baden. Ich würde niemals Wasser an meine Denim lassen.
Wie «reinigst» du deine Hosen?
Puritaner wie ich lieben den Originalfarbton. Wenn du deine Raw Denim nur einmal wäschst, wäscht sich der ganz typische Indigo-Farbton raus und wird zu einem Königsblau. Alle anderen behandelten Jeanshosen kannst du getrost waschen. Einmal pro Woche ist aber zu viel des Guten. Ideal sind alle sechs Monate, ausser du schwitzt stark.
Wie machst du das mit dem Schwitzen?
Ich ziehe meine (schöne) Denim natürlich nicht an, wenn ich Arbeiten im Garten oder auf dem Bau verrichte. Als Bürogummi, wie ich es bin, ist das kein Problem. Ausserdem ist Raw Denim bei trockenem Dreck schmutzabweisend. Wenn du nicht stark schwitzt, kannst du deine Hose 200 Tage tragen. Und wenn du sie mit einer anderen Hose abwechselst, alle ein bis zwei Jahre.
Was passiert, wenn Tag X kommt?
Das ist ein Dilemma, denn es gibt keine Lösung. Entweder wäschst du sie und hast eine königsblaue Hose oder du trägst sie nur noch in deiner Freizeit. Die typisch starken Spuren, die Jeansliebhaber hypen, bekommst du nur, wenn du die Hose nie wäschst. Oder du probierst es mit Lüften und Tiefkühlen aus. Weitere Tricks, um Gestank zu vermeiden: Trag dein Modell immer zu gross, so schwitzt du weniger.
«Mit meinen über 37 000 Followern gelte ich bereits als Influencer. Pro Tag verbringe ich rund ein bis zwei Stunden auf Instagram.»
Schaust du den Leuten in die Augen oder auf die Hosen?
Ich bin dabei nicht wertend, aber ja: Mein Blick wird von Denims magisch angezogen. Wenn ich ein cooles Teil sehe, spreche ich die Person darauf an und gebe ihr meinen Zettel mit, eine Art Visitenkarte, und sage dabei: «Egal was passiert. Wirf die Hose bitte nicht weg.» Dabei bleibe ich zurückhaltend. Ich will den Leuten ja nicht die Hose auf offener Strasse abschwatzen.
Was war das Verrückteste, dass du für eine Hose gemacht hast?
Während eines Mittagessens im Niederdorf sah ich auf der Strasse einen japanischen Studenten, der eine Blue-Jeans-Hose von Big Smith trug. Ich liess alles stehen und liegen und lief ihm nach. Mit Händen und Füssen erklärte ich ihm, dass er mich um 13 Uhr beim Central treffen soll. Ich nahm mir spontan frei, zeigte ihm meine Jeanssammlung und konnte die Hose nach dreistündiger Überzeugungsarbeit tatsächlich gegen eine brandneue Levi’s tauschen.
Wie viel hat dich dein Hobby bisher gekostet?
In all den Jahren habe ich sicher rund 200 000 bis 300 000 Franken dafür ausgegeben. Eine teure Passion, ich weiss. Andere fahren dafür mit 59 Jahren einen Ferrari (lacht).
Egal ob Raw Denim oder nicht, wenn du auch angefressen bist, geht's hier zu unserem Jeans-Sortiment.
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Wenn ich mal nicht als Open-Water-Diver unter Wasser bin, dann tauche ich in die Welt der Fashion ein. Auf den Strassen von Paris, Mailand und New York halte ich nach den neuesten Trends Ausschau und zeige dir, wie du sie fernab vom Modezirkus alltagstauglich umsetzt.