Hintergrund

Dein Gehirn ist süchtig nach Ablenkung – so erziehst du es zu Konzentration

Nachrichten in 100 Sekunden, TikToks in 30 Sekunden, Tweets in 250 Zeichen und Artikel mit Lesedauer-Angabe: Alles feilscht um unsere Aufmerksamkeit, doch die ist ziemlich begrenzt. Kann man sich heutzutage überhaupt noch länger auf eine Sache konzentrieren?

Wann hast du das letzte Mal ein Buch gelesen, konzentriert und in nur wenigen Tagen? Überfliegst du Online-Artikel nur anhand der Zwischenüberschriften oder bleibst du bist zum Schluss bei der Sache? Und: Wo ist dein Smartphone, wenn du einen Film schaust – Stichwort: Second Screen? Schaust du nur den Film oder chattest du auch nebenbei?

Du fühlst dich ertappt? Keine Sorge, ging mir genauso. Beruhigend: Jeder Mensch hat ein Problem mit seiner Aufmerksamkeit, und das nicht erst seit dem Zeitalter des Smartphones. Das menschliche Gehirn, so zeigen neuste Studien, ist schlicht und einfach nicht dafür gemacht, sich lange Zeit ein- und derselben Aufgabe zu widmen. Es braucht neue Reize, permanent.

Genau das machen sich Soziale Netzwerke wie Instagram, TikTok und Co. zunutze: «Doomscrolling» ist mittlerweile ein fester Begriff und ein weit verbreitetes Phänomen. Stundenlanges Rumgewische und Gescrolle durch die verschiedensten Apps und danach kein Stück schlauer.

Warum es hilft zu wissen, wie dein Hirn funktioniert

Doch dagegen kannst du etwas tun, wenn du weißt, wie es um deine Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit bestellt ist. Obwohl in der Psychologie kein Konsens in Bezug auf Aufmerksamkeitsmodelle besteht – also verschiedene Theorien existieren, mit denen die Funktionen der Aufmerksamkeit beschrieben werden –, ist eines klar: Aufmerksamkeit ist so etwas wie der «geistige Scheinwerfer» eines Organismus. Dieser ermöglicht es uns, aktuelle oder generell wichtige Dinge in den Fokus zu nehmen. Das kann unbewusst aber auch bewusst geschehen, etwa wenn du nach einem Namen oder einer Szene aus deinem Gedächtnis suchst oder deine Gedanken abschweifen, weil dir etwas anderes in den Sinn kommt.

In seinem 2022 erschienen Buch «Abgelenkt» (engl. Originaltitel: Stolen Focus: Why You Can’t Pay Attention), beschreibt der britische Journalist und Autor Johann Hari das Scheinwerferlicht unserer Aufmerksamkeit noch differenzierter. Für ihn teilt sich unsere Aufmerksamkeit in vier verschiedene Lichter: Scheinwerferlicht, Fernlicht, Tageslicht und Stadionlicht. Doch was ist damit gemeint?

Das Jetzt, das Morgen, das Lebensziel, das Wir

  • Das Scheinwerferlicht: Wo wären wir, wenn wir unseren täglichen Fokus nicht auf die wirklich wichtigen Dinge richten könnten? Der Kaffee oder Tee in der Früh, der verlegte Wohnungsschlüssel, der leere Kühlschrank oder der ungelesene Artikel: Das Scheinwerferlicht hilft uns, die Aufmerksamkeit einzugrenzen. Für einen Moment ist also nur die nächste Umgebung wichtig. Die größere Perspektive erfolgt durch das nächste Licht.
  • Das Fernlicht: Jetzt richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die langfristigen Ziele, also auf das, worauf wir hinarbeiten wollen. Zum Beispiel das Studium oder die Ausbildung abschließen, eine Familie gründen und ein Vorbild für die Kinder sein oder einmal im Leben auf dem Dach der Alpen stehen. Hari beschreibt das Fernlicht als Orientierungshilfe im Leben (und nennt es auch Sternenlicht), denn «wenn man sich verloren fühlt, schaut man zu den Sternen auf und erinnert sich an die Richtung, in die man reist.» Nur woher weißt du überhaupt, was deine Ziele sind?
  • Das Tageslicht: Um zu erkennen, was für dich im Leben wichtig ist, bedarf es der Fähigkeit zur Reflexion und eines klaren Denkvermögens. Du musst beantworten können, warum du beispielsweise eine Familie gründen willst und was es heißt ein Vorbild zu sein. Gleiches gilt für Ausbildung und Job: Warum jene, warum dieser? Und: Was erhoffst du dir vom Besteigen eines hohen Berges? Mit dem Tageslicht knipst du sozusagen das Licht an und wirfst einen möglichst nüchternen Blick auf die langfristigen Ziele. Und dann? Was ist mit dem Rest der Welt? Jetzt kommt es darauf an.
  • Das Stadionlicht: Hari führt zu guter Letzt ein weiteres Licht ein und dreht dieses voll auf. Denn die Stadionlichter stehen sozusagen sinnbildlich für «unsere Fähigkeit, einander zu sehen, zu hören und zusammenzuarbeiten, um kollektive Ziele zu formulieren und für diese zu kämpfen.» Also: sie symbolisieren die Gemeinschaft Mensch, in der wir uns alle bewegen und in der auch du deinen Platz finden musst.

Der ewige Kampf zwischen Aufmerksamkeit und Ablenkung

Die Sache mit den Lichtern leuchtet ein – aber warum genau etwas deine Aufmerksamkeit erhält bzw. dich von etwas ablenkt, ist damit noch nicht geklärt. Und das ist auch gar nicht so einfach. Einführungsbücher aus der Psychologie sind voll mit den verschiedensten Ansätzen, die von selektiver bis dimensionsbasierter Aufmerksamkeit reichen. Vieles davon ist demnach abhängig von den jeweiligen Präferenzen. Was genau deine Aufmerksamkeit bekommt, liegt bei dir. Also sei die andere Frage gestellt: Was lenkt dich ab?

Zur Aufmerksamkeit gehört immer auch die Ablenkung – so wie zum Licht der Schatten. Also ab in den Schatten, oder auch: Herzlich Willkommen, liebe Interferenz. Der Begriff beschreibt die Ablenkung von oder Unterbrechung einer Handlung durch irrelevante Informationen, Störgeräusche, andere Personen, Geräte, Gedanken und so weiter.

Interfenz gliedert sich laut zwei Experten – Dr. Adam Gazzaley, Neurowissenschaftler und einer der Vorreiter in puncto Ablenkungen und Unterbrechungen des Gehirns, und Dr. Larry Rosen, Psychologe mit Schwerpunkt Psychologie und Technik – in zwei Kategorien: internale und externale Interferenz.

Gemeint sind damit einerseits Ablenkungen durch uns selbst – etwa durch abschweifende Gedanken – und andererseits Ablenkungen von außen, also durch «äußere sensorische Reize, wie etwa die Geräuschkulisse eines Lokals oder akustische, vibrierende bzw. blinkende optische Signale», schreiben die beiden Autoren in ihrem Buch «Das Überforderte Gehirn. Mit Steinzeitwerkzeug in der Hightech-Welt».

Laut den Wissenschaftlern existieren internale und externale Interferenzen schon seit jeher. Sie sind keine Erscheinungen der Moderne, hervorgerufen etwa durch Smartphone, Computer und Medien aller Art. Ablenkung ist immer möglich, sei es durch ein umgefallenes Glas am Nachbartisch in einem Restaurant oder wenn das Gespräch mit deiner Chefin dich auch noch beim Feierabenddrink mit einer Freundin einholt. Positiv gesehen, kannst du das Multitasking nennen, negativ wohl eher: Ablenkung.

Die Kunst besteht nun darin, die Aufmerksamkeit zurückzugewinnen und sich ganz auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Nur wie geht das, wenn der Mensch längst durchschnittlich nur noch drei Minuten am Stück an einer Aufgabe sitzt?

Wie du dich besser konzentrierst

Gut, diese drei Minuten betreffen zum Glück nicht die Arbeitswelt. Hier ergab dieselbe Studie immerhin eine Konzentrationszeit von elfeinhalb Minuten, bevor der Mensch zu einer anderen Aufgabe übergeht. Auch nicht gerade viel, doch es gibt Techniken und Hilfsmittel, mit denen sich diese Zeit verbessern lässt. Worauf es ankommt:

1. Vermeide es, zwischen vielen Dingen hin- und herzuspringen

Zwischen vielen Projekten, Anwendungen und Dingen hin- und herzuspringen, ist nicht förderlich für deine Aufmerksamkeit. Dein Belohnungszentrum freut sich zwar, weil es permanent neue Reize erhält, doch der eigentlichen Aufgabe schadet es. Problematisch wird dieses Verhalten vor alle dann, wenn du regelmäßig Multitasking betreibst. Studien haben gezeigt, dass sich dadurch Gewohnheiten etablieren können, die sich nicht mehr so einfach zurückbilden lassen.

2. Priorisiere und plane, was du schaffen willst

Gute Planung ist die halbe Miete, heißt es ja oft – und daran ist vieles wahr. Wenn du dir im Vorhinein einen guten, realistischen Zeitplan überlegst, innerhalb dessen du gewisse Aufgaben erledigen willst, ist vieles gewonnen. Wichtig ist nur: Die Ziele sollten nicht zu ambitioniert gesteckt sein, denn dann sind sie im Grunde unschaffbar. Auch in Bezug auf das Arbeitsleben ist es deshalb nur ehrlich und richtig, enge Deadlines und Zeitpläne kritisch zu hinterfragen. Nichts stört deine Konzentration so sehr wie das Wissen über das Nicht-Erreichen des Ziels.

3. Achte auf eine möglichst ablenkungsfreie Umgebung

Es scheint so simpel, doch eine ablenkungsfreie Umgebung ist wahnsinnig wichtig für deine Konzentrationsfähigkeit. Neuste Studien untermauern das, was du sicherlich schon oft festgestellt hast: dein Smartphone ist Ablenkungsfaktor Nummer 1. Und dabei ist es gar nicht das Gerät selbst, sondern vor allem die Sozialen Medien, die einen Großteil unserer Aufmerksamkeit verschlingen. Willst du also konzentriert arbeiten, achte darauf, dass dein Smartphone (wenn schon nicht beiseite gelegt) zumindest auf stumm geschaltet oder im Flugmodus ist. Auf den meisten Geräten kannst du auch Timer für Apps einstellen. Sie sind dann täglich nur einen gewissen Zeitraum verfügbar.

Apropos Timer: «Abgelenkt»-Autor Johann Hari ist auch oft abgelenkt. Damit er seine Zeit produktiver nutzt und nicht ständig zum Smartphone greift – in 24 Stunden tun wir das rund 1600 Mal! –, sperrt er es gleich ganz weg. Dafür hat er einen eigenen kleinen Safe namens kSafe, der auf den ersten Blick aussieht wie ein Plastikbehälter für Mehl. Doch der Clou steckt im Deckel mit einer digitalen Zeitschaltuhr, durch die sich Schließzeiten von 15 Minuten bis hin zu zwei Wochen einstellen lassen.

Oder du stellst dein Smartphone so ein, dass die Oberfläche in Graustufen erscheint, um das Smartphone unattraktiver erscheinen zu lassen. Vielleicht gelingt es auch dir damit, deine Smartphone-Zeit, die im Durchschnitt bei etwas mehr als drei Stunden am Tag liegen dürfte, zu reduzieren.

Übrigens: Ein hoher Geräuschpegel ist auch nicht förderlich für deine Konzentration. Abhilfe schaffen hingegen neuste Trends um Rauscheffekte wie etwa #brownnoise oder weißes Rauschen.

4. Guter Schlaf ist wichtig: Und Pausen einlegen

Wer Smartwatches trägt und seinen Schlaf überwachen lässt, hat das schon einmal erlebt: Die Uhr warnt vor mangelnder Konzentrationsfähigkeit, wenn der Schlaf schlecht war. Aber auch ohne Uhr weißt du um die Auswirkungen einer unruhigen Nacht. Und natürlich belegen auch einige Studien, wie wichtig guter Schlaf für deine Gesundheit ist. Demnach ist Stress ein großer Faktor in Bezug auf die Schlafqualität, gleiches gilt für Alkohol.

Doch auch Menschen, die unter Atmungsstörungen beim Schlafen leiden (beispielsweise obstruktiver Schlafapnoe), haben am darauffolgenden Tag oft Probleme, sich zu konzentrieren und leiden unter Müdigkeit. Eine mögliche Lösung, um die Konzentration zu steigern und die Produktivität wieder zu erhöhen: Power-Napping. Denn laut neuen Untersuchungen reichen schon 30 bis 60 Minuten aus, um deine Arbeitskraft zu regenerieren.

Firmen wie Google, NASA, Samsung und HuffPost haben deshalb eigene Erholungsbereiche geschaffen, in denen Mitarbeitende zu neuen Kräften kommen können. Und in Wien berät «Siesta Consulting» Menschen und Unternehmen, um auch sie davon zu überzeugen, wie vorteilhaft Erholungsphasen um die Mittagszeit sind – und geradezu zum Erfolgsfaktor von Organisationen werden können.

5. Macht des positiven Denkens

Glaubt man dem Autor und Journalisten Hari, solltest du dich nicht dafür bestrafen, wenn es mit der Konzentration mal nicht so gut klappt. Ablenkung passiert, aber sich deshalb selbst zu hassen und das eigene Fehlverhalten zu rügen, lohnt nicht. Besser, du machst es wie der Autor von «Abgelenkt» und überlegst dir stattdessen, wie du in einen produktiven Flow-Zustand fällst. Was musst du tun, um deine Fähigkeiten herauszufordern? Die Umgebung verändert, Geräte abschalten, kurz Pause machen? «Die Suche nach dem Flow, so habe ich gelernt, ist weitaus effektiver als bestrafende Scham.»

Titelfoto: shutterstock

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Notizbuch, Kamera, Laptop oder Smartphone. Leben heißt für mich festhalten – analog oder digital. Immer mit dabei: mein iPod Shuffle. Die Mischung macht’s eben. Das spiegelt sich auch in den Themen wider, über die ich schreibe.


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