Hintergrund

Wege aus dem Chaos: Ausmisten beflügelt die Sinne

Ausmisten ist das neue Fasten, Zusammenräumen eine Entgiftungskur für die Psyche. Was steckt hinter dem Trend zu mehr Struktur und weniger Besitz? Wahrscheinlich die Suche nach dem Seelenheil.

Meine geheime Super-Power? Ich kann ein Hotelzimmer innerhalb von wenigen Minuten in einen Sauhaufen verwandeln. Brösel im Bett, Kleiderhaufen auf den Boden, Schminkutensilien im Bad, Kabelsalat auf den Regalen, Speisereste auf den Tischen, vielleicht sogar an den Wänden. Das ist, was in komprimierter Form von mir übrig blieb, also von meinem früheren Ich. Denn einst war ich die absolute Chaos-Queen, haarscharf an der Grenze zum Messie.

Das behauptet schnell mal jemand von sich. Aber bei mir stimmt es. Meine allererste Wohnung mit 19 kündigte ich mit 20 nach einer ausufernden Party. 30 Menschen auf 30 Quadratmetern hinterließen zu viel Dreck zum Ausräumen, ich zog in eine WG, um dort weiter zu schmutzen. Das ging so weit, dass man meine Zimmertür nicht ordentlich aufbekam, weil sich drinnen so viel Zeug stapelte. Bevor ich aber von meinen WG-Kumpeln hinausgeschmissen wurde, zog ich zu meinem ersten Freund. Und der hatte eine äußerst motivierte Haushaltshilfe. Sein Glück – und auch meines.

Ausmisten: Zuviel belastet und weniger ist mehr

Heute fällt in meiner Wohnung der Blick auf nichts, was das Auge stört. Wenn ich etwas suche, dann finde ich es – Ausnahmen wie Brille und Schlüssel bestätigen die Regel. Hausfrauliche Talente sind zwar immer noch nicht mein Ding, aber eine gewisse Struktur tut der Seele gut. Zahlreiche Studien bestätigen, dass ich mit dieser Art von «Mental Health Care» nicht allein bin: Wissenschaftlerinnen des «Neuroscience Institute der University of Princeton» haben mittels Kernspintomographie herausgefunden, dass Chaos unsere Konzentration trübt und uns von wichtigen Entscheidungen ablenkt, da Informationen richtig ausreichend verarbeitet werden können.

Das bestätigt auch eine Untersuchung der «Cornell University» in New York: Den Probandinnen und Probanden wurden diverse bekannte Film-Szenen gezeigt – sie brauchten länger, um die Gesichtsausdrücke der Protagonistinnen und Protagonisten zu erkennen, je unübersichtlicher der Bildhintergrund gestaltet war. Im Chaos verliert man schneller den Überblick. Außerdem zeigt eine Studie des «Center on Everyday Lives of Families» der «University of California» eine Verbindung zwischen großer Unordnung und gesundheitlichen Problemen: Der Cortisol-Spiegel steigt – Stress, Ängste, Depressionen, Schlafstörungen und Gewichtszunahme können die Folgen sein.

Schmeiss‘ weg – Von «Magic Cleaning» zu «Death Cleaning»

Deshalb: Regelmäßig ausmisten – und zwar radikal, wenn das Gefühl von Kontrollverlust übermächtig wird und aufräumen nur noch aus der «Aus den Augen, aus dem Sinn»-Methode besteht: Man verbannt Herumstehendes und -liegendes wahllos in Kästen und Regale, einfach damit es aus dem Blickfeld verschwindet. Unter der Oberfläche jedoch wartet das Grauen. Die wahre Challenge, das endgültige Abschiednehmen, schiebt man immer weiter hinaus. Mit Marie Kondo wurde uns diese große Aufgabe nähergebracht: Die japanische Beraterin hat bereits vor vielen Jahren ihr Buch «Magic Cleaning» veröffentlicht. Anfang 2019 erschien dann auf «Netflix» die dazugehörige Serie: Kondo besuchte verzweifelte Familien, die Ordnung in ihr Zuhause bringen wollten.

Die KonMari-Methode (Deutsch, Marie Kondo)
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Das grosse Magic-Cleaning-Buch (Deutsch, Marie Kondo, 2018)
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Deutsch, Marie Kondo, 2018

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Einige jedoch schreckte ihr etwas esoterischer Zugang ab: Kondo bestand etwa darauf, sich bei den einzelnen Gegenständen, von denen man sich trennt, persönlich zu bedanken. Doch immerhin: die Lust aufs Großreinemachen war geweckt. Säckeweise trugen die Menschen ihre alte Kleidung und nicht gebrauchten Alltagsgegenstände zum Müllplatz oder warfen sie in Spendenboxen. Ihre Nachfolgerin geht die Sache noch radikaler an: «Death Cleaning» heißt der Trend, den die Schwedin Margareta Magnusson ins Leben gerufen hat: Gemeint ist damit der Prozess des radikalen Entrümpelns der Wohnung – wie vor dem eigenen Tod. Und der Wunsch, diesen Prozess nicht den Hinterbliebenen zu überlassen. Verknappt: «Ordne als würdest du morgen sterben».

Frau Magnussons Kunst, die letzten Dinge des Lebens zu ordnen (Deutsch, Margareta Magnusson, 2018)
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Deutsch, Margareta Magnusson, 2018

Ordnung hilft dabei, Veränderung zulassen

Warum ich mich vom Chaos (mehr oder minder erfolgreich) getrennt habe? Ich bin gerne glücklich. Wer entrümpelt, räumt auch seine Psyche auf. So schaffe ich Freiraum – nicht nur in Schubladen und im Kleiderschrank. Denn es geht immer um die gleichen, großen Themen: Entscheidungen treffen, Veränderung zulassen, Prioritäten setzen und vor allem: Loslassen. Dieser Prozess kann durchaus schmerzen: Wirft man etwas weg, was früher mal viel bedeutet hat, kommt oft ein Gefühl von Trauer auf. Andererseits: Sich bewusst von nostalgisch besetzten Stücken zu trennen, weil sie einfach nicht mehr Teil des aktuellen Lebens sind und zur Vergangenheit gehören, kann auch sehr erleichtern. Alle, die schon mal nach dem Ende einer Beziehung die Ex-Partner-Erinnerungskiste entrümpelt oder sogar als Ganzes weggeworfen haben, werden dieses Gefühl nachvollziehen können. Es tut weh – und es tut zugleich gut.

Allerdings bedeutet Struktur nicht unbedingt, dass wir uns nur mit dem Nötigsten umgeben. Minimalismus ist seit Kondo vielleicht ein Trend, aber Trends kommen und gehen. Es ist wenig nachhaltig wie von ihr gefordert bis zu siebzig Prozent des Besitzes wegzuwerfen, um danach sukzessive wieder neu und nach zu kaufen. Außerdem: In einer kargen Wohnung könnte ich mich nie zuhause fühlen, da fehlt die Wohnlichkeit und die Wärme. Lieb gewonnene Erinnerungsstücke zu behalten, bedeutet nicht gleich Chaos, ganz im Gegenteil. Nur wirken sie sicherlich günstiger auf unser Wohlbefinden, wenn sie sich nicht achtlos stapeln oder in Ecken verstauben, sondern gezielt präsentiert werden. Ordnung schaffen ist – wenn regelmäßig praktiziert – gar nicht so schwer.

Na? Hast du Lust darauf bekommen, bist aber noch ein wenig ängstlich? Das Schlimmste, was dabei herauskommen kann, ist das du in der Früh die Lieblingsjeans gleich findest.

Titelbild: shutterstock

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Lebe lieber ungewöhnlich: Ob Gesundheit, Sexualität, Sport oder Nachhaltigkeit, jedes Thema will entspannt, aber aufmerksam entdeckt werden. Mit einer gehörigen Portion Selbstironie und niemals ohne Augenzwinkern.


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