

Warum steht die Schweiz auf Latin?
Der Latin-Pop-Song Despacito von Luis Fonsi war der Überhit 2017. Während sich ganz Europa seither vom Latin-Gesülze emanzipiert hat, blieb der Musikstil in der Schweiz hängen. Warum bloss?
12 Jahre als Redaktor und Produzent beim Privatradio haben mich nachhaltig geschädigt. Ein halbes Dutzend Latin-Hits laufen dort täglich in der A-Rotation, im Schnitt fünfmal am Tag. Die aurale Dauerpenetration durch die Radioschleife ist kaum auszuhalten. Spanische statt chinesische Wasserfolter für den Gehörgang. Beim ersten Takt von Despacito lösen sich bei mir spontane Schmerzschreie. Läuft «Calma» im Radio, ist bei mir «Tormenta». Ich vergebe Ricky Iglesias keinen Takt von «El perdón». Kurz: Diese Art von Musik ist schrecklich.
Zwei Jahre kann ich mich vom Trauma erholen, bis ich bei einem Bier Jule kennenlerne. Sie arbeitet bei Warner Music in Hamburg und ist bei Freunden in Zürich auf Besuch. Jule kümmert sich bei Warner um den «Domestic Market», was in ihrem Fall die DACH Region – also Deutschland, Österreich und die Schweiz – bedeutet. Als eines der drei grossen Musiklabels neben Sony und Universal ist Warner für all das verantwortlich, was wir so aus dem Radio, auf Youtube und Spotify zu hören bekommen. Im Mainstream versteht sich. Die drei machen die Charts.
Ich frage Jule also, warum der Hype um Latin-Music ungebrochen ist. Sie soll Reggaeton und Co. doch endgültig aus dem Programm der deutschsprachigen Radiostationen verbannen. Ihre Antwort? «Das seid bloss ihr Schweizer. In Österreich und Deutschland läuft kein Latin mehr …»
Latin-Hochburg Helvetia
Echt jetzt? Wir Schweizer*innen sind Bewahrer von Traditionen, Änderungen fallen uns schwer. Dass sich diese Trägheit aber auch auf den kollektiven Musikgeschmack niederschlägt, hätte ich nicht gedacht. Wir halten drei Jahre nach «Despacito» Latin-Musik noch immer für «The next big thing»!
Ein Blick auf die Jahreshitparade bestätigt Jules Aussage. Unter den 50 besten Songs 2019 – davon zwei in den Top 10 – sind in der Schweiz acht dem Latin-Genre zuzuordnen. In Österreich waren im selben Jahr drei Latin-Songs und in Deutschland zwei in den Jahresendcharts vertreten – keiner schaffte es in die Top 10.
SCHWEIZ
8 Pedro Capó - Calma
9 Daddy Yankee feat. Snow - Con calma
16 DJ Snake & J Balvin feat. Tyga Loco contigo
22 Ozuna - Baila baila baila
35 Maître Gims & Maluma - Hola señorita
38 Loco Escrito - Punto
43 Benji & Fede - Dove e quando
44 Takagi & Ketra, Omi & Giusy Ferreri - Jambo
DEUTSCHLAND
11 Daddy Yankee feat. Snow - Con calma
30 DJ Snake & J Balvin feat. Tyga - Loco contigo
ÖSTERREICH
18 Daddy Yankee feat. Snow - Con calma
32 Pedro Capó - Calma
42 DJ Snake & J Balvin feat. Tyga Loco contigo
Ausgerechnet in der qualitätsgelobten Schweiz findet billig produzierte, immergleiche Massenware aus Lateinamerika Anklang. Vielleicht ist das die Revanche dafür, dass DJ Bobo in den 90er-Jahren Lateinamerika mit seinem Eurodance gequält hat. Vielleicht haben sich Musikproduzenten seit Jahren Vergeltung geschworen für die Vergehen von René Baumann. So zumindest tönt der Quatsch, den Radios hier landauf landab spielen.
Du magst mich jetzt als xenophoben, engstirnigen Musik-Snob beschimpfen. Fakt ist: Ich kann fast jedem Genre etwas abgewinnen, ausser für die Masse produziertem Latin-Pop. Dabei verschreibe ich mich keinesfalls nur obskuren Independent-Künstlern, im Gegenteil. Nach den Pop-technisch dunklen Nullerjahren hat sich das Genre im Grossen und Ganzen in eine tolle Richtung entwickelt. Pop emanzipiert sich. Adele, Lorde, Taylor Swift, Lana del Rey oder Charlie XCX zeigen, dass Frauen im Musikgeschäft heute mehr sind als gut vermarktete Mannequins, die in der Rolle der Lolita für feuchte Träume herhalten müssen. Die grandiose Billie Eilish ist die konsequente Weiterführung dieses Trends.
Da erscheint der Schweizer Hang zum Latin-Macho ein Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit. Bei den acht Latin-Songs, die es in die Schweizer Jahresend-Charts geschafft haben, spielten Frauen nur eine leicht bekleidete Nebenrolle in den Musikvideos. Künstler, Songwriter und Produzenten waren allesamt Männer. Dabei gäbe es durchaus Künstlerinnen, die mit Latin für Furore sorgen. Das Flamenco-Revival «El mal querer» von Rosalía habe ich vor drei Jahren rauf und runter gehört. Den Geschmack der Schweizer Masse hat die Sängerin aus Barcelona leider nicht getroffen.
Ein Erklärungsversuch
Um zu verstehen, warum Latin hierzulande so gut ankommt, musst du zuerst die Zielgruppe der Schweizer Lokalradios kennen. Aus meiner Radio-Vergangenheit weiss ich, dass die meisten Sender als Zielhörerin eine Frau zwischen 30 und 40 aus einem vorstädtischen Umfeld definieren. Wir haben sie damals «Julia, 35» genannt und das gesamte Programm nach ihr ausgerichtet. Diese Zielhörerin bestätigt mir auch Nicola Bomio, Leiter Programm Radio bei CH Media tv & radio, zu denen Radio 24, Radio Argovia, FM1, Melody, Pilatus, Radio 32 und Virgin Radio Switzerland gehören. Damit Julia nicht zur Konkurrenz schaltet, muss die gespielte Musik bei ihr ankommen. Das scheint offensichtlich Latin zu sein. Wieso das so ist wissen weder Nicola noch Jule. Schliesslich dürfte die Radio-Zielgruppe in Deutschland und Österreich auch weiblich und 35 sein. Bloss teilen die Julias dort den Enthusiasmus für Latin nicht. Rapper Bonez MC oder Soul-Schlager-Sängerin Sarah Connor sind dort eher angesagt. Woher kommt das spezielle Latino-Flair der Schweizer Julia?
Theorie 1: Der Wunsch nach einem Latin-Lover
Muskulös, braungebrannt und gross – so stellt sich «Julia, 35» ihren Traummann vor. Er darf ruhig ein bisschen Macho und eifersüchtig sein, aber er macht ihr immer Komplimente, etwas was sie von Schweizer Männern nie kriegt. Streitereien dürfen auch sein, solange er sie danach wieder auf Händen trägt. Im Bett ist der Latin-Lover einsame Spitze, so die Vorstellung. Weil Julia seit sechs Jahren mit Marcel aus dem Nachbardorf verheiratet ist, bleibt der Latin-Lover ein ewiger Traum, getragen von heissen Rhythmen.

Theorie 2: Die Erinnerung ans Vergangene
Eigentlich will sich Julia schon länger von Marcel trennen. Den zwei Kindern zuliebe tut sie das aber nicht. Wie sollen Sören und Jacqueline denn ohne Vater aufwachsen? Dabei denkt Julia an die Südamerikareise nach dem Gymi zurück. Hätte sie vor 15 Jahren doch mehr Mut gehabt und wäre mit dem Surflehrer Julio in Kolumbien durchgebrannt. Sie wäre heute glücklich unter den Palmen von Cartagena und würde europäischen Touris das Surfen beibringen, statt hier die Buchhaltung der lokalen Spenglerei zu leiten. Wenigsten lässt die Musik im Radio die heissen Nächte in Lateinamerika in Gedanken wieder aufleben.
Theorie 3: Das vergebliche Vermeiden des Bünzlitums
Julia ist weltoffen und das unterstreicht sie mit ihrem Musikgeschmack. Sie ist keine von denen. Politik interessiert sie nicht und darum geht sie selten abstimmen. Als aber neulich darüber entschieden wurde, ob jetzt in einer Gemeindewohnung zehn Geflüchtete einziehen sollen, da hat sie dann doch ein Nein in die Urne gelegt. Sicherheit ist ihr wichtig, vor fünf Jahren hat Marcel im Einfamilienhaus für teures Geld eine Alarmanlage installiert. Ausgelöst wurde die erst einmal, als Nachbarskater Fridolin, der Frechdachs, ins gekippte Kellerfenster sprang und die Wohnung verwüstete. Seither ist auch das Fenster mit einem Doppelschloss gesichert. Sie vertraut den Menschen zwar, aber man muss die Gefahr ja nicht herausfordern. Ein Bünzli, nein das ist Julia nicht. Im Gegenteil: Sie geht ins Zumba, ihr Lieblingssalat ist italienischer Caprese und im Ausgang trinkt sie Caipirinha. Mit Volksmusik kann sie so gar nichts anfangen, viel lieber hört sie Loco Escrito. Der macht richtig guten Latin-Sound und ist sogar Schweizer.
Über Geschmack lässt sich nicht streiten
Was auch immer Julia daran begeistert, ich muss mir das Latin-Gedöns zum Glück nicht antun und werde nur peripher davon gestreift, wenn irgendwo Privatradio läuft. Julias gibt es keine in meinem Freundeskreis und wird es auch nie geben. Caliente Festival und Reggaeton-Bashes finden ohne mich statt. Julia darf ihren Latin Lover ohne mich suchen und das ist gut so. Würde es mir dennoch zu viel, weiss ich jetzt zumindest, dass ich auf Deutschland oder Österreich auswandern könnte, in die Latin-freie Zone.
Als ich vor über 15 Jahren das Hotel Mama verlassen habe, musste ich plötzlich selber für mich kochen. Aus der Not wurde eine Tugend und seither kann ich nicht mehr leben, ohne den Kochlöffel zu schwingen. Ich bin ein regelrechter Food-Junkie, der von Junk-Food bis Sterneküche alles einsaugt. Wortwörtlich: Ich esse nämlich viel zu schnell.