Von Igitt zu Love it: Wie Nützlinge meine Freunde wurden
Hintergrund

Von Igitt zu Love it: Wie Nützlinge meine Freunde wurden

Bisher ekelten mich Nützlinge zu sehr, um sie gegen Trauermücken, Motten und Co. einzusetzen. Doch dann habe ich bei der Andermatt Group AG Fadenwürmer, Schlupfwespen und Raubmilben besucht – mit Folgen.

Sommer 2023. Trauermücken schwärmen um meine Indoor-Kräuter wie britische Touristen ums All-Inclusive-Buffet. Auf der Suche nach einem Mittel gegen das Trauerspiel stosse ich erstmals auf Fadenwürmer. Alles in mir sträubt sich. Ich will doch Mücken loswerden und mir keine Würmer holen, denke ich mir. Und so serbeln meine Kräuter ab.

  • Ratgeber

    Das herbe Ende meiner Indoor-Kräuter

    von Darina Schweizer

Sommer 2024. Beim Anblick von Fadenwürmern sträubt sich nichts mehr in mir. Ich bin begeistert. Und das kam so:

Ein Besuch, der alles verändert

Sanft geschwungene Hügel, bimmelnde Kuhglocken – die Fahrt nach Grossdietwil ist so idyllisch wie der Slogan der Luzerner Gemeinde: «Rundum Natur». Mittendrin steht die Andermatt Group AG. Sie ist die führende Schweizer Firma für biologische Pflanzenschutzmittel. Dazu gehören nicht nur Präparate in Flaschen, sondern auch lebende Nützlinge wie Fadenwürmer, Raubmilben, Schlupfwespen, Marienkäfer und vieles mehr.

Zu diesen Mini-Krabblern nimmt mich der Produktionsleiter Silvan Bosshard mit. Wir starten bei seinen Lieblingen, den Zweipunkt- oder Adalia-Marienkäfern. Die Firma züchtet sie selbst. Wie genau, ist ihr Geheimnis. Doch die hübschen Insekten haben mein Interesse geweckt. Schliesslich bin ich ein grosser Fan von Ladybug Francis aus dem Pixar-Klassiker «A Bug's Life».

Silvan Bosshard mit seinem Lieblingsnützling in der Hand: dem Adalia-Marienkäfer.
Silvan Bosshard mit seinem Lieblingsnützling in der Hand: dem Adalia-Marienkäfer.
Quelle: Darina Schweizer

Ähnlich rabiat wie der Filmcharakter geben sich auch die echten Marienkäfer. Silvan setzt ein Exemplar auf ein Azaleenblatt. Zielsicher krabbelt es zum Stiel der Pflanze, wo die Blattläuse sitzen. «Der Käfer kann sie über Pheromone in der Luft aufspüren», erklärt Silvan. Langsam pirscht sich der Marienkäfer an. Mit seinem kräftigen Kiefer, den Mandibeln, hält er die Beute fest und beginnt, sie zu zermalmen. Dadurch bricht die Hülle auf. Nun gönnt sich der Marienkäfer einen spritzigen Cocktail: Er saugt die Laus bis zum letzten Tröpfchen aus. Und schon geht’s weiter zum nächsten Opfer.

Ein ausgewachsener und zwei junge Adalia-Marienkäfer – auf der Suche nach ihrer Leibspeise: Blattläusen.
Ein ausgewachsener und zwei junge Adalia-Marienkäfer – auf der Suche nach ihrer Leibspeise: Blattläusen.
Quelle: Darina Schweizer

Grosse Esser, gutes Gleichgewicht

Brutal? Ja. Umweltfreundlich? Auch. «Nützlinge sind die sinnvollste Alternative zu Pflanzenschutzmitteln», sagt Silvan. «Man kann sie weder überdosieren noch hinterlassen sie schädliche Rückstände.» Hat der Marienkäfer seinen Dienst erfüllt, krabbelt und fliegt er weiter.

Schädlinge wie Blattläuse gibt es für ihn in der Schweiz mehr als genug. An Nützlingen hingegen mangelt es. Schuld sind unter anderem Pestizide sowie der Verlust von Lebensräumen durch Versiegelung und intensive Landwirtschaft. Werden mehr Nützlinge eingesetzt, nehmen Schädlinge ab – und durch die rückläufige Nahrung dann auch wieder die Nützlinge. So entsteht ein ökologisches Gleichgewicht.

Doch nicht alle Nützlinge sind laut Silvan gleichermassen «nützlich». Der asiatische Marienkäfer etwa, der vor rund 20 Jahren in die Schweiz eingeführt wurde, sei zwar ein effektiver und beliebter Schädlingsbekämpfer. Doch er fresse auch viele hilfreiche Insekten und sei sehr invasiv. So entstehe ein Ungleichgewicht. «Heimische Arten wie der Adalia-Marienkäfer sollten immer erste Wahl sein», betont Silvan.

Hübsch, aber problematisch: Der asiatische Marienkäfer kann sich zu stark ausbreiten und anderen Nützlingen schaden.
Hübsch, aber problematisch: Der asiatische Marienkäfer kann sich zu stark ausbreiten und anderen Nützlingen schaden.
Quelle: Shutterstock/Protasov AN

Eine Kinderstube in Kadavern

Was draussen mit Marienkäfern gelingt, gelingt drinnen auch mit anderen Nützlingen. Silvan holt ein kleines Röhrchen hervor. Darin surrt es wie wild. Was auf den ersten Blick wie Trauermücken aussieht, sind in Wahrheit winzige Schlupfwespen. Jetzt geht es den Vorrats- und Kleidermotten an den Kragen.

Der reinste Motten-Albtraum: Schlupfwespen.
Der reinste Motten-Albtraum: Schlupfwespen.
Quelle: Darina Schweizer
Sobald die Schlupfwespe ein Opfer gefunden hat, sticht sie zu. Danach beginnt ein brutaler Todeskampf.
Sobald die Schlupfwespe ein Opfer gefunden hat, sticht sie zu. Danach beginnt ein brutaler Todeskampf.
Quelle: Shutterstock/Thomas Vacek

Silvan lässt die Schlupfwespen losfliegen. «Am besten setzt man sie alle zwei Wochen ein, so lebt immer eine genügend grosse Anzahl», sagt er. Eine Schlupfwespe hat eine Motte aufgespürt. Mit einem Legestachel sticht sie in das Innere ihrer Beute und legt Eier ab. Trigger-Warnung: Jetzt wird’s richtig eklig. Innerhalb der Kleidermotte schlüpfen nun die Schlupfwespenlarven. Sie fressen die Motte von innen her auf. In den Überresten ihrer Opfer verpuppen sie sich und schlüpfen als Wespen (das hat was vom Science-Fiction-Horror-Klassiker «Alien»). Dann beginnt das Ganze von vorne. Ausser, die Nahrung geht aus. Oder die Schlupf- werden von Raubwespen verspeist. Ganz nach dem Motto «Fressen und gefressen werden».

Nematoden – so eklig sind sie gar nicht

Mein erstes Ekelgefühl habe ich abgelegt. Nun traue ich mich an meine Erzfeinde, die Fadenwürmer oder Nematoden. Silvan nimmt ein Plastiksäckchen mit einem beigen Pulver hervor. So werden die Nützlinge per Post verschickt. Aufgrund ihrer kurzen Haltbarkeit – ihr einziger Nachteil im Vergleich zu Pflanzenschutzmitteln – müssen sie schnell eingesetzt werden.

Fadenwürmer sahen selten so harmlos aus. Zumindest von Weitem.
Fadenwürmer sahen selten so harmlos aus. Zumindest von Weitem.
Quelle: Darina Schweizer
Bei der Nahaufnahme meldet sich bei mir wieder das Ekelgefühl.
Bei der Nahaufnahme meldet sich bei mir wieder das Ekelgefühl.
Quelle: Shutterstock/William Edge

Wie, das ist schon alles? «Ja», sagt Silvan und lacht. «Von Auge sind sie kaum zu sehen. Doch tatsächlich sind hier drei Millionen Nematoden drin.» Ich schlucke. «Wie gross werden die?», frage ich zögerlich. «Die bleiben so. Aber es gibt schon auch imposantere Exemplare. Der grösste Fadenwurm, der Pottwale befällt, kann bis acht Meter lang werden.»

Ich verziehe das Gesicht. Da sind mir die kleinen Nematoden schon lieber. Silvan kippt sie in eine Giesskanne und wässert damit die Pflanzen. Unter der Erde orten die Nematoden die Trauermückenlarven durch chemische Signale. Haben sie ihre Beute aufgespürt, dringen sie in Körperöffnungen ein. Durch ein toxisches Bakterium, das die Nematoden mitbringen, vergiften sie die Trauermückenlarven und vermehren sich innerhalb ihres Körpers. Ist keine Nahrung mehr da, sterben auch sie und werden wiederum von noch kleineren Mikroorganismen in der Erde zersetzt.

Tausendsassas und Unbezwingbare

Ich bin fasziniert von diesen Kreisläufen. So sehr, dass ich gleich noch die Raubmilben sehen will. Erinnerst du dich an die herumwuselnden orangen Pünktchen auf Steinen, die du in der Schulzeit vielleicht zerdrückt hast? Das hättest du besser sein lassen. Denn genau das sind Raubmilben. Sie machen sich über Spinnmilben und andere Milben her. Präventiv nützen sie auch gegen Trauermückenlarven oder Erdflöhe. Kurz: Es sind wahre Tausendsassas.

Kein Filterpapier für den Joint: Hier schlüpfen Raubmilben.
Kein Filterpapier für den Joint: Hier schlüpfen Raubmilben.
Quelle: Darina Schweizer
Om Nom Nom: eine Raubmilbe bei ihrem «succulent meal».
Om Nom Nom: eine Raubmilbe bei ihrem «succulent meal».
Quelle: Shutterstock/Tomasz Klejdysz

Nicht gegen alle Schädlinge sind so passende Nützlinge wie Raubmilben «gewachsen». Bei Ameisen etwa, die kaum Gegenspieler haben, seien nur Fallen wirklich sinnvoll, so Silvan. Zumindest bis jetzt. Die Andermatt Biogarten AG arbeitet mit ihren Forschungs- und Entwicklungsteams stets an neuen Nützlingen. Welche das sind, will Matthias Kohler, Leiter Produktmanagement und Einkauf, nicht verraten. Die Einführung könne wegen aufwendiger Zulassungsbedingungen in der Schweiz ohnehin noch etwas dauern, meint er. Doch wie sagt man so schön? Gut Ding will Weile haben.

Die Frage nach Gut und Bös

Auch bei den Nützlingen brauchte es Zeit, bis das Bewusstsein in der Bevölkerung stieg. «Ich finde es schön, wie sich die Leute immer mehr mit Pflanzen beschäftigen und sich damit auseinandersetzen, wie die Natur Schädlinge bekämpft», sagt Silvan Bosshard.

Genauso geht es auch mir. Fadenwürmer sehe ich nicht mehr als schädliche Parasiten, sondern als nützliche Helfer. Nicht nur die farbigen Marienkäfer, auch die schlauchigen Nematoden sind meine Freunde geworden. Vielleicht ist es ähnlich wie beim Unkraut, denke ich mir. Die Grenze dazwischen, was eine «gute» und «schlechte» Art und was eklig und liebenswürdig ist, zieht immer der Mensch. Und ausgerechnet der ist der grösste Schädling.

Welche Erfahrungen hast du mit Nützlingen gemacht? Schreibe es in die Kommentare. Falls du dich für lebende Nützlinge interessierst, findest du sie hier.

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Titelbild: Darina Schweizer

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Ich mag alles, was vier Beine oder Wurzeln hat. Zwischen Buchseiten blicke ich in menschliche Abgründe – und an Berge äusserst ungern: Die verdecken nur die Aussicht aufs Meer. Frische Luft gibt's auch auf Leuchttürmen.


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