Hintergrund

Und es hat Boom gemacht: Cargo-Bikes mischen den Verkehr auf

Sie sind lang, breit und ein Statement. Mit Lastenrädern lässt sich der Lieferverkehr, der Weg zur Kita und zum Einkaufen ökologischer gestalten. Doch die Packdrahtesel sind nicht überall gerne gesehen.

Neulich habe ich mir zum ersten Mal im Leben ein Lastenrad gewünscht. Während die Träger meiner viel zu grossen Reisetasche auf dem Rücken die Blutzufuhr der Arme abschnitten, wurde der Weg auf dem Velo durch die Stadt lang und ungemütlich. Doch irgendwie wollte ich meinen Pizzaofen an den vereinbarten Picknickplatz bringen. Bis vor einem Jahr war der Kinderanhänger meine Allzweckwaffe, wenn es um mittelgrosse Transportaufgaben in der City ging. Nun ist er verkauft, und überall sehe ich sie: Die Bullitts und Babboes, Cargoos und Urban Arrows.

Das tönt nach Strassen-Gang oder Rapper-Slang: «Zur Seite, du Opfer, bevor dir der Babboe ‘ne Bullitt verpasst!» Doch die hippen Lastesel sind natürlich kein Gangster-Gadget, sondern eher ökobewusstes Statussymbol der oberen Mittelschicht. Langgestreckte Zweiräder mit tiefer Ladefläche oder lässig-ausladende Lastenbikes auf drei Rädern, die immer häufiger durch die Strassen rollen. Seit sie motorisiert zu haben sind, zieht das Geschäft auch in hügeligen Regionen an. 1613 Cargo-E-Bikes wurden 2020 laut Branchenverband Velosuisse in der Schweiz verkauft, und gefühlt ist mir jedes einzelne davon bereits begegnet. Ich hätte gedacht, es wären mehr. Dass dieser Markt weiter wachsen wird, ist jedenfalls absehbar.

Urban Arrow Shorty Epp (53 cm)
E-Bike

Urban Arrow Shorty Epp

53 cm

Die Kita-Kavallerie kommt

Kein anderes Fahrzeug schreit so laut: «Schau, es geht auch ohne Auto.» Allerdings nur, wenn du einen Stellplatz dafür hast. Selbst wenn die erlaubte Breite auf einen Meter begrenzt ist, bugsierst du so ein Ding nicht mehrmals täglich in den durchschnittlichen Velokeller. Weil die Cargo-Bikes ein gut sichtbares Statement sind, hat sich schnell ein Kulturkampf daran entzündet.

Die Anschaffung ist teuer, die Klientel entsprechend einkommensstark und die «Cargo-Bike Mum» oder «bakfietsmoeder» in den Niederlanden ein Symbol der Gentrifizierung. Wo die Kita-Kavallerie auf dem Lastendrahtesel einreitet, verändert sich im Viertel etwas. Andere hegen vielleicht den Verdacht, dass diese Spezies gar nicht besonders nachhaltig unterwegs ist, sondern nur auf der Trendwelle surft. Wer für die Fahrt durch die Stadt nicht mehr in den SUV klettern will, sattelt an sonnigen Tagen um und kauft sich das gute Gefühl, grüne Avantgarde zu sein. Eines steht jedenfalls fest: Das Cargo-Bike bewegt. Und zwar schon ziemlich lange.

Ein «Long John», dessen Geschichte bald 100 Jahre zurückreicht.
Ein «Long John», dessen Geschichte bald 100 Jahre zurückreicht.
Quelle: Wikimedia Commons/KaiMartin/CC BY-SA 3.0)

Ein Klassiker kommt wieder

Das Lastenrad wurde nicht neu erfunden, es wird nur neu entdeckt. Schliesslich fuhr es schon vor hundert Jahren durch die Gegend, als die 100-Kilo-Ladung allerdings noch ohne Schaltung mit purer Muskelkraft bewegt werden mussten. Kein Wunder, dass nach und nach jeder, der es sich leisten konnte, auf das Auto umstieg oder einen Lieferwagen anschaffte. Die Strassen waren leer, die Aussichten rosig. Heute sind die Strassen voll und der Blick in die Auspuffrohre erfordert erneutes Umdenken.

Besser früher als später, wie das Beispiel Kopenhagen zeigt. Dort begann der Wandel schon in den 80er-Jahren, heute gilt die Stadt als Vorbild. Der Wille zur Veränderung war da und führte dazu, dass Wege entstanden. Wege, auf denen auch ausladende Velos genug Platz fanden und sich im Stadtbild etablieren konnten. Heute sind die Christiania Bikes des Althippie-Pärchens Annie Lerche und Lars Engstrøm moderne Klassiker.

Kinder sind keine Last

Ich kann mir vorstellen, dass das entspannte Cruisen mit dem Kinder-Frachter auf breiten, vom Autoverkehr separierten Velowegen eine Freude ist. Bei unseren Strassenverhältnissen habe ich Bedenken. So ein Dreirad ist zweifellos ein Hingucker und ich verstehe auch, dass es angenehm ist, die Kinder vor sich im Blick zu haben. Nach Jahren mit dem Anhänger in der Innenstadt bin ich froh, dass diese Transportphase heil überstanden ist und ich mir die ständigen Schulterblicke wieder abgewöhnen kann. Aber Kinder sind keine Last und auch ein bullig wirkendes Cargo-Bike nicht automatisch sicherer als ein Anhänger. Im Gegenteil.

Eine Blumengirlande an der Holzbox hilft nichts und nicht alle Modelle lassen sich mit guten Kindersitzen, Verdeck und Überrollschutz ausstatten. Manche Gurte scheinen eher alibimässig angebracht zu sein. Ein Cargo-Bike als Kindertransporter wäre mir nie in den Sinn gekommen, obwohl ich damit ein besseres Image als die angeblich karriereorientierte «bakfietsmoeder» gekauft hätte: Cargo-Männer gelten als cool, soft und total gute Kümmerer, schreibt The Atlantic. Ähnliche Attribute sind mir bei Kinderanhängern nicht bekannt. Ich hätte meinen so oder so nicht eingetauscht, denn er war unschlagbar vielseitig. Er hat den Kinderwagen überflüssig gemacht und mein Velo perfekt ergänzt, bis die Kinder selber fahren konnten.

Kinderanhänger kommen und gehen. Das Cargo-Bike taugt dagegen als Dauereinrichtung. Es ist mehr als ein Kita-Taxi und hat das Potenzial, die Innenstädte zu entlasten. Denn Autoschlangen hinter Lieferwagen mit Warnblinkern auf dem Trottoir sind wirklich ein Ärgernis, das sich auf Kurzstrecken gut vermeiden lässt. Dort sind Lastenräder schneller am Ziel. Viele Grossstädte entwickeln Hub-Systeme, um Waren auf den letzten Kilometern effizient mit Cargo-Bikes in den Stadtvierteln zu verteilen. Davon profitieren Umwelt, Anwohner und Unternehmen, die auf entsprechende Fahrzeuge setzen: Sie werden positiv wahrgenommen, das Bike ist beste Werbung.

Ein UPS-Pedelec in Hamburg.
Ein UPS-Pedelec in Hamburg.
Quelle: Wikimedia Commons/Flor!an/CC BY-SA 4.0

Mehr als ein Lebensabschnittsgefährt

Cyclelogistics geht davon aus, dass gut die Hälfte aller innerstädtischen Fahrten durch Cargo-Bikes zu ersetzen sind. Frankreich subventioniert mit dem bonus écologique künftig nicht nur Elektroautos, sondern auch Lastenräder. Kleinunternehmen machen bei Projekten wie «Mir sattlä um!» positive Erfahrungen und Privatpersonen kommen durch Bike-Sharing-Angebote wie carvelo2go unkompliziert an einen Lastdrahtesel. Überall werden Anreize gesetzt und das Cargo-Bike kommt in immer neuen Formen auf den Markt. Während grosse Varianten schon wieder an kleine Laster erinnern und mehrere hundert Kilo transportieren können, denke ich für Einkäufe (und meinen Pizzaofen) über die flexible Anbaulösung von AddBike nach.

Noch habe ich mich nicht entschieden, aber auf irgendeine Art muss bald wieder mehr Gepäck mit. Anders als ein Kinderanhänger ist das Lastenvelo mehr als ein Lebensabschnittsgefährt. Es wird noch vielfältiger werden, während sich unsere Gewohnheiten und Städte langsam verändern. In Deutschland hatte die Polizei sogar schon eine Idee, durch die Autofahrende die maximale Wut auf Lastenvelos entwickeln werden: Augsburger Beamte haben eines zur mobilen Radarfalle umgebaut. Die schiesst Bilder von innerstädtischen Rasern. Vielleicht sind es Erinnerungsfotos an eine untergehende Zeit.

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Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.


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