Laufshirts aus recycelten Autoreifen und andere Verrücktheiten
Nachhaltige Sportbekleidung in der Schweiz zu produzieren, war Michael Ingrams Traum. Viele hielten das für unmöglich. Mit seinem Start-up Revario zeigt er den Skeptikern, dass sich Durchhaltevermögen und Flexibilität nicht nur beim Trailrunning, sondern auch bei der eigenen Geschäftsidee auszahlen.
Es begann in einer Küche mit einem aufgeschnittenen Schuh. Michael Ingram ist ein passionierter Trailrunner, der beim Eiger Ultra Marathon, beim Swiss Canyon Ultra Trail und bei vielen anderen Rennen mit Strecken von bis zu 120 Kilometern dabei war. Seinen ersten Trail beendete er im Alter von zwölf Jahren, lange bevor sich das Trailrunning als Trendsport etablierte. Mehr noch als die körperliche und mentale Herausforderung begeistert ihn das Naturerlebnis in den Bergen.
Nachhaltige Trailrunningausrüstung war sein Ziel
Doch in der Natur sah er in den vergangenen Jahren immer stärkere Veränderungen. Nur mit dem Finger auf das Problem zu zeigen, ist allerdings nichts für ihn. Michael wollte selbst zur Lösung des Problems beitragen. Seine Schuhe schienen ein geeigneter Startpunkt. Denn sie bestanden zum grossen Teil aus Kunststoffen, waren in Asien gefertigt und hatten nur eine kurze Lebensdauer. «Das muss besser gehen», sagte er sich und schnitt seine Laufschuhe mit dem Küchenmesser auf, um einen Einblick in Aufbau und mögliche Fertigungsmethoden zu bekommen.
Kurzfristig gesehen waren die Schnittverletzungen des Schuhs vergebens. Denn trotz intensiver Bemühungen wurde Michael klar, dass die Sportschuh-Herstellung in der Schweiz mit nachhaltigen Rohstoffen – so wie er sich das vorstellte – zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich war. Doch wenn er durch das Laufen von Ultra-Distanzen Eines gelernt hatte, dann, dass Aufgeben keine Option ist und dass es Durchhaltewillen braucht, um ein Ziel zu erreichen. Also fasste er das nächste Etappenziel ins Auge: Die Herstellung von Trailrunningbekleidung aus recycelten Materialien in der Schweiz.
Ein Start-up, das Viele für eine Schnapsidee hielten
Dieses Ziel hat er erreicht: Wir treffen uns im Schneideratelier seiner Marke Revario in Marly im Süden der Stadt Fribourg. Hier im ehemaligen Industriequartier, in dem einst Ciba, Sandoz und Ilford Imaging ihre Standorte hatten, entsteht gerade das Ecoquartier. Wohnhäuser, ein Innovationscenter, Restaurants, ein Escape Room und ein Schwimmbad sind bereits fertig. Andere Gebäude befinden sich noch im Bau. Die Atmosphäre hat etwas von Aufbruch, von Neuanfang. Revario ist gerade in ein grösseres Atelier umgezogen und schon wieder wird der Platz knapp, sagt Michael, der Revario gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Emmanuel Currat führt.
Die Start-up-Atmosphäre passt zu Revario, das erst Anfang 2020 gegründet wurde und seither stark gewachsen ist. Nach den Schnitzereien mit dem Laufschuh konzentrierte sich Michael auf Bekleidung und kontaktierte Lieferanten von recyceltem Gewebe, die ihn zunächst nicht ernst nahmen. Michael wollte in der Schweiz mit nachhaltigen Stoffen produzieren und das – da war man sich in Fachkreisen einig – sei eine Schnapsidee. «Nicht wirtschaftlich», sagten die Einen. «Es ist kein Know-how mehr in der Schweiz vorhanden, wie technische Stoffe verarbeitet werden», mahnten die Anderen. «Überhaupt, viel zu teuer und gar nicht machbar», meinten die Dritten. Alles gute Gründe für Michael, es trotzdem zu versuchen. Denn Sportbekleidung in Asien fertigen zu lassen, passt mit seinen Vorstellungen von Nachhaltigkeit schon wegen der Transportwege nicht zusammen. Noch absurder findet er es, wenn auf dem Label steht: «aus italienischem Stoff», dieser dann aber in Asien zu einem Shirt verarbeitet wird.
Crowdfunding und Stoffe aus recycelten Autoreifen
Nachdem er in seinem Zuhause mit Unterstützung einer Schneiderin aus der Nachbarschaft die ersten Prototypen eines Trailrunningshirts gefertigt hatte, sah er das Potenzial. Gleichzeitig hörte er von einer beruflichen Wiedereingliederungsinitiative der Caritas, die ein Projekt für Näherinnen suchte. Auf einer Crowdfunding-Plattform des Genfer Energieversorgers SIG stellte er sein Projekt vor. Die Resonanz übertraf seine optimistischsten Erwartungen. 600 Kleidungsstücke seiner neuen Marke wurden innerhalb eines Monats bestellt. Die Produktion konnte starten.
Seither geht das Wachstum stetig voran. Im zweiten Jahr verkaufte Revario bereits 3500 Kleidungsstücke, bis Ende 2023 sollen es rund 10 000 sein. Die Zahl der Mitarbeitenden, fast alles Näherinnen, ist auf 10 gestiegen. Und auch die Auswahl der Stoffe, die verarbeitet werden, hat sich vergrössert. Vor Kurzem ist Michael über einen Lieferanten auf einen Stoff gestossen, der aus recycelten Autoreifen besteht. Diesen Stoff verarbeitet er jetzt zu Hoodies und Leggings, die sich überraschend weich und angenehm anfühlen. Daneben nähen seine Mitarbeitenden auch Textilien aus recycelten PET-Flaschen. Bei vielen Produkten ist auf der Revario-Website angegeben, wie weit der Stoff gereist ist. Meist sind es einige hundert Kilometer.
Nähe zu Lieferanten mit nachhaltigen Stoffen
Während im Hintergrund die Nähmaschinen surren, zeigt Michael mir einen weiteren Vorteil der lokalen Produktion auf. Als sich die Bekleidungsindustrie nach Asien verlagerte, sind nur wenige Textilzulieferer in Europa geblieben. Diese haben sich auf hohe Qualität und Nachhaltigkeit spezialisiert. Textilien zu finden, wie er sie sucht, sei deshalb nicht so schwierig wie erwartet.
Auch natürliche Stoffe hat Michael im Blick. Allerdings ist beim Trailrunning die Nachfrage nach technischen Materialien aus Kunststoff hoch, weil Wolle oder andere Materialien nicht so leicht und schnell trocknend sind wie synthetische Stoffe. Für ein Hoodie, das auch für die Freizeit geeignet ist, nutzt er biologisch angebaute Baumwolle aus Griechenland. Merinowolle ist in Europa relativ knapp, deshalb ist sie noch kein fester Bestandteil der Kollektion. Aber Stoffe aus Holzfasern hat der 38-jährige Unternehmer schon im Visier.
Schneller Turnaround und Feedback der Community
Die lokale Produktion mit Zulieferern aus der Umgebung hat noch andere Vorteile: Michael kann schnell reagieren, wenn Materialien wie der Stoff aus Autoreifen auf den Markt kommen. Zudem steht er über Social Media im Austausch mit der Trailrunning Community. «Wir fragen ständig: Wollt ihr dieses oder jenes? In welchen Farben?», sagt Michael. Vorschläge, Kritik und Anregungen fliessen unmittelbar in die nächsten Designs ein.
Durch die lokale Produktion hat sich noch ein anderer, wichtiger Geschäftszweig eröffnet: Teamshirts für Vereine und Unternehmen. Schon ab 10 Bekleidungsstücken kann Revario Shirts, Shorts und Hoodies mit individuellem Logo fertigen. Die nachhaltigen Stoffe, die kleinen Bestellmengen und die schnellen Lieferfristen sind dabei für viele Kunden ein Plus.
Die Ziellinie gibt es nicht, Ziele jedoch noch viele
Für Michael gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen seiner neuen Aufgabe und dem Trailrunning: Eine Ziellinie existiert für ihn als Unternehmer nicht. Zwar änderten sich – wie beim Trailrunning – die Umgebung und die Bedingungen, doch angekommen sei er nie. Für die Zukunft stellt er sich vor, die Kollektion weiter auszubauen und vielleicht auch neue Standorte zu eröffnen. «Es wäre toll, in Deutschland für den deutschen Markt und in Italien für den italienischen Markt zu produzieren.» So will er weiterhin nah an Kundschaft und Lieferanten bleiben. Wichtig ist ihm auch, die Lebensdauer seiner Bekleidung zu verlängern. Deshalb bietet er einen Reparaturservice an. Beschädigte Kleidungsstücke können zurückgeschickt und im Atelier geflickt werden.
Noch ein Ziel hat er vor Augen: Die Herstellung eines nachhaltigen Laufschuhs hatte er 2020 verworfen, weil für das Nähen des Obermaterials in der Schweiz kein Know-how vorhanden war. Inzwischen hat er in Marly im Kanton Fribourg Näh-Expertise aufgebaut. Womit auch die Herstellung eines Schuhs wieder denkbar geworden ist.
Titelfoto: Siri SchubertForschungstaucherin, Outdoor-Guide und SUP-Instruktorin – Seen, Flüsse und Meere sind meine Spielplätze. Gern wechsel ich auch mal die Perspektive und schaue mir beim Trailrunning und Drohnenfliegen die Welt von oben an.