Heilung durch Hobby: Ich kaufe mir eine Modelleisenbahn
Früher spielte fast jeder Junge damit, heute ist das Hobby Modelleisenbahn weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei macht es viel Freude – vor allem, seit die Miniatur-Lokomotiven originalgetreue Geräusche von sich geben.
Hoi zäme, ich bin der Thöme, bin 46 Jahre alt und mag Spielsachen. Ich habe meine von früher alle behalten; alle Duplo, alle Lego, alle Playmobil, alle Fisher-Price, alle Schlümpfe, alle Autos und alle Plüschtiere, die nach der langen Zeit so angejahrt wirken wie ihr Besitzer, aber immer noch genau so freundlich dreinblicken wie früher. Über den vollen Dachboden, der sich auf diese Weise ergibt, habe ich hier bereits berichtet.
Beim Einkauf auf Galaxus lege ich denn auch nicht selten das eine oder andere Lego-Set in den Warenkorb, zum Beispiel die knuffige kleine Strassenreinigungsmaschine. Meine Freude, Lego auszupacken und zusammenzubauen, ist seit Ende der 1970er-Jahre unverändert gross geblieben.
Was ich in diesem Zusammenhang partout nicht verstehe: warum Lego nicht die alten Sets von damals neu auflegt. Zum Beispiel die Ritter-Lego oder die Space-Lego. Es wäre ein Milliardengeschäft. Nicht zuletzt meinetwegen – ich würde alles kaufen. Ich mag die modernen Lego, aber ihnen fehlt die unschuldige Einfachheit und vor allem der Einfallsreichtum der früheren Sachen, und die Lizenz-Orgie mit Star Wars, Harry Potter etc. war sowieso nie meins.
Meine neueste Spielzeug-Anschaffung ist eine Modelleisenbahn in Spur N, das steht für die neun Millimeter Spurbreite, was wiederum einen Massstab von 1:160 bedeutet. Mit «Modelleisenbahn» meine ich die rudimentärste aller Bedeutungsvarianten: ein simples Gleisoval, eine Steuereinheit und ein kurzer Zug, bestehend aus einer Ae 6/6 von Fleischmann mit zwei Personenwagen. Es gibt, auch wenn das Hobby Modelleisenbahn in den letzten Jahrzehnten einen tragischen Niedergang erlebt hat, immer noch viele, die ihre ganze Freizeit damit zubringen, liebevoll eine masstabgetreue kleine Kunstwelt in Szene zu setzen; mit Strassen, Autos, Menschen, Bergen und natürlich einer Menge Tunnels. Mir fehlt dafür der Platz und vermutlich auch die Geduld, zumal ich bereits glücklich damit bin, einfach im Kreis herumzufahren.
Vor allem, weil Modell-Loks seit ein paar Jahren mit digitalen Decodern ausgerüstet sind sowie mit einem Lautsprecher. Das heisst, über den Stromkreis der Schienen wird via Controller nicht nur Kraft zum Fahren verschickt, sondern auch Information zum Aktivieren diverser Sound- und Licht-Funktionen. Die Geräusche sind dem Original der Lokomotive entnommen beziehungsweise dessen Umgebung: Anfahren, Kompressor, Türenschliessen, Hupen, Bremsen und Bahnhofsansagen werden auf Knopfdruck abgespielt, was den Eindruck erweckt, da fahre wahrhaftig ein echter geschrumpfter Zug durchs Wohnzimmer, beziehungsweise man sei ein 283 Meter grosser Riese (Körpergrösse x 160).
Ich habe meine Eisenbahn bei Frau Neisser in Zürich gekauft. Sie führt einen der letzten beiden Modelleisenbahnläden der Stadt, die anderen sind alle konkurs gegangen oder wurden altershalber aufgegeben, und ihr Geschäft ist auch schon besser gelaufen. «Die Jungen fahren nicht mehr!», sagt die reizende alte Dame, aber nicht betrübt, sondern mit dem Lachen eines Menschen, der weiss, dass man alle Dinge nehmen muss, wie sie kommen. Auch wenn sie nicht kommen. Seit der Corona-Krise trauen sich deutlich weniger Kunden in den Laden, und einen Web-Shop hat Frau Neisser nicht.
Im Magazin «Der Spiegel» hat vor einiger Zeit ein Redaktor einen tollen kurzen Text über den Niedergang des Hobbys im allgemeinen geschrieben. Er sagte, dass die Menschen früher friedlicher gewesen seien, als noch jeder ein Hobby gehabt hätte, eine Modelleisenbahn etwa. Damals seien die Leute in ihren Keller gegangen zum Spielen, und zufrieden wieder hochgekommen. Heute gingen sie dorthin, um fieses Zeug ins Internet zu schreiben. Der ganze Online-Hass sei wohl nur dem Verschwinden des Hobbys zu verdanken.
Mir gefällt die These, die übrigens wissenschaftlich untermauert ist: sich mit etwas zu beschäftigen, das einem Freude bereitet, und nur diesen Zweck hat, versetzt einen in einen Zustand, den der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi als «Flow» bezeichnet hat. Nebst Legobauen und Modelleisenbahnfahren bringt mich elektronische Musik in den Flow, außerdem Schach und Fotografie, vor allem die mit Lichtmalerei. Nichts davon verfolgt ein anderes Ziel als die Zufriedenheit. Ich will keinen Wettbewerb und keine Anerkennung gewinnen, sondern einfach Spass haben.
Ich denke, die Welt wäre tatsächlich ein friedlicherer Ort, würden sich die Menschen wieder mehr Zeit nehmen für ein Hobby, dann hätten sie weniger Zeit fürs Internet (ja, ich weiss, ich schreibe das für einen Online-Shop). Vielleicht schaust du mal bei Frau Neisser vorbei? Sicher kennst du jemanden, der Freude hätte an einer Lok, die coole Geräusche macht, und vielleicht bist dieser Jemand ja sogar du selbst.
Was ist dein Hobby? Wie kommst du in den Flow? Und welche Lego-Sets hättest du gern neu aufgelegt? Schreib es in die Kommentare!
Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch.