Einst belächelt, heute beliebt: Die Schultüte ist definitiv in der Schweiz angekommen
Die Schweiz hat das Ritual von ihrem nördlichen Nachbarn abgeschaut: Auch hier posieren in diesen Tagen zahlreiche Erstklässlerinnen und Erstklässler mit grosser Schultüte in den Armen. Worum geht es beim Brauch aus Deutschland eigentlich?
Nicht nur der Schulthek gehört aufs obligate Einschulungsfoto. Überdimensional, bunt und mit Schleifchen versehen, prangt heute nicht selten auch noch ein Kartonkegel in den Armen der stolzen Erstklässlerin oder des stolzen Erstklässlers. Haben wir die Schultüte in meiner Kindheit in den 1990er-Jahren noch als eigenartigen Brauch aus Deutschland belächelt, hat sie sich inzwischen auch in der Schweiz zum liebgewonnenen Ritual gemausert.
Es ist ein Symbol für den Schulstart: Die Tüten sollen «den Einstieg in den strengeren Schulalltag versüssen», erklärt Julia Murphy, die sich mit ihrem Online-Shop Schultuete.ch ganz auf die bunten Pappkegel spezialisiert hat.
Die Schultüte auf dem Vormarsch
Gerade befindet sich Murphy in der «heissen Phase», wie sie sagt. In diesen Tagen werden die Tüten nämlich wieder zahlreich von Eltern, Grosseltern oder Göttis und Gottis bestellt und verschenkt. Einige Kantone haben diese Woche mit der Schule gestartet, kommenden Montag ziehen die nächsten nach. «Der Schulstart kommt für viele wie Weihnachten dann auf einmal doch recht überraschend», sagt Murphy lachend.
Wie beliebt die Schultüten hierzulande inzwischen sind, belegen auch die Galaxus-Verkaufszahlen eindrücklich: In diesem Jahr wurden bereits 36 Prozent mehr verkauft als im gesamten Jahr 2023. Im Vergleich zu 2021 ist es ein stolzes Plus von 105 Prozent. Die meisten Tüten landen kurz vor dem Start des Schuljahres im Warenkorb, also im Juli und August. Im Juli 2024 waren es nun 115 Prozent mehr als noch im Juli 2023.
Von Zuckertüten und Zuckertütenbäumen
Während die Schultüte in der Schweiz noch ein junger Brauch ist, hat sie in Deutschland, wo sie gerne auch Zuckertüte genannt wird, eine bereits zweihundertjährige Tradition vorzuweisen. Erfunden wurde sie im Osten, in Thüringen und Sachsen. Dort sollen die ersten Tüten verteilt worden sein: «Damals ist ein Vater zum Konditor gegangen und hat dort für seinen kleinen ABC-Schützen eine Tüte mit Zuckerwerk füllen lassen – also Zuckertüte», erklärte Bettina Nestler, Geschäftsführerin von Nestler, der ältesten Zuckertütenfabrik Deutschlands, kürzlich gegenüber dem MDR. «Damals war auch die Einschulung zu Ostern, deswegen entwickelte sich dann im Laufe der Zeit auch der Begriff Ostertüte.»
Rund hundert Jahre später wurde zum ersten Mal die Legende des Zuckertütenbaums erwähnt: Albert Sixtus war es, der in seinem Buch «Der Zuckertütenbaum» von Zuckertüten schrieb, die wie Früchte an einem Baum wachsen. «In jeder Schule wächst ein Zuckertütenbaum. Wenn die Tüten gross genug sind, ist es für die Kinder höchste Zeit, zur Schule zu gehen.» Noch heute werden in einigen deutschen Bundesländern während der Vorschulzeit kleine Schultüten gebastelt und an Bäume gehängt.
Das kommt in die Tüte
Wie der Brauch in den letzten Jahren in die Schweiz übergeschwappt ist, ist unklar. Wahrscheinlich sind in der Schweiz lebende Deutsche verantwortlich, die die Tradition bei der Einschulung ihrer Kinder weiterführen. Das mutmasste die Neue Zürcher Zeitung schon 2015. Und das schreibt auch der Tages-Anzeiger in einem aktuellen Beitrag von dieser Woche. «Zaghaft» halte die Schultüte Einzug, schrieb die NZZ damals vor neun Jahren. Die Nachfrage sei aber da. Die Papeterie Köhler verkaufte in ihren acht Filialen seinerzeit 50 bis 60 Schultüten pro Jahr. Auf Anfrage des Tages-Anzeigers sind es heute 200 Tüten, die bei der Zürcher Papeterie Zumstein über den Ladentisch gehen.
Geändert hat sich mit den Jahren der Inhalt. Wurde sie traditionellerweise einst mit Süssigkeiten, Äpfeln und Nüssen gefüllt, kommen heute auch Schulutensilien in die Tüte. Radiergummis zum Beispiel, Stifte oder Spitzer. Dazu Spielsachen wie ein Legoset oder ein Gummitwist. Aber nach wie vor dürfen natürlich auch die Süssigkeiten nicht fehlen.
Wichtig sei laut Schultuete.ch, dass die schweren Dinge unten landen. Generell sollte die Tüte jedoch mit leichten Dingen befüllt werden – sonst sei das Tragen für das Kind schnell zu anstrengend. Genau deshalb gibt es die Tüten inzwischen auch in kleinerem Format zu kaufen: mit einer Länge von 70 oder 35 Zentimetern statt den üblichen 85 oder gar 100 Zentimetern.
Das kommt auf die Tüte
Aussen prangen heute gerne beliebte Kinderfilmfiguren oder Kinderthemen: Dauerbrenner seien Einhörner, Meerjungfrauen, Schmetterlinge, Superhelden und Fahrzeuge aller Art, sagt Schultüten-Expertin Julia Murphy. Auch aktuelle Kinofilme und Serien spielten eine Rolle, genauso wie Trends der Spielwarenindustrie. «Das Angebot an Schleich-Motiven wird immer grösser und die Nachfrage nach Lego- oder Minecraft-Motiven steigt ebenso.» In diesem Jahr seien zudem kunstvoll gestaltete Motive hoch im Kurs. Und die Fussball-EM habe die Nachfrage nach Fussballmotiven angeheizt.
Verkaufsschlager bei Galaxus ist dagegen ein ganz anderes Sujet: Buchstaben. Diese Schultüte ist allerdings ausverkauft.
Anna- und Elsa-Mami, Apéro-Expertin, Gruppenfitness-Enthusiastin, Möchtegern-Ballerina und Gossip-Liebhaberin. Oft Hochleistungs-Multitaskerin und Alleshaben-Wollerin, manchmal Schoggi-Chefin und Sofa-Heldin.