

Ein spätes Hoch auf die Geranie

Inbegriff des Bünzlitums, Verkörperung der Schweizer Tradition und Grosi-Blume: die Geranie. So schlecht ihr Ruf, so gut ihre Verkaufszahlen. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich die Pflanze zu schätzen wusste.
Sie ist des Schweizers liebste Zier- und Balkonpflanze. Sie hat eine lange historische Tradition, nicht nur hierzulande. Ursprünglich aus Südafrika wurde sie schon um 1600 nach Europa gebracht. Heute zählt die Gattung etwa 280 Arten und hat eigentlich einen anderen Namen. Denn was wir Geranie nennen, heisst wissenschaftlich Pelargonium. Die eigentliche Geranie ist auch bekannt als Storchschnabel und kommt zwar aus der gleichen Familie wie die Pelargonie, gehört aber einer anderen Gattung an.
Nette Fakten. Aber nett ist bekanntlich die kleine Schwester von Scheisse. Was soll ich von einer Pflanze halten, deren aufregendstes Detail in einer Namensverwechslung liegt? Die Geranie ist so rebellisch wie Znacht um 18 Uhr und penibel gebündeltes Altpapier.
Symbol des Konservatismus
So dachte ich in meiner von Geranien geprägten Jugend. Sie zierten die Fassade jedes ordentlich herausgeputzten Bauernhauses oder Chalets. Nicht nur auf Postkarten und gestellten Touristenfotos, sondern im wahren Leben. Es schien, als ob mir die Blume sagen wollte: «Hier ist noch alles in Ordnung.» Ich war mir sicher, dass hier eine Mutter, ein Vater, zwei Kinder und vielleicht noch ein wohlerzogenes Haustier lebten. Der Vater ging selbstverständlich arbeiten, während die Mutter ein vorzügliches Essen zubereitete. Jeder, was er kann. Die Blume stand für eine Weltanschauung aus den 50er-Jahren und das Patriarchat. Sie verkörperte die Kuhglocken-Schweiz. So sehr gefüllt mit Tradition, dass kein Platz für Fortschritt blieb. Nein, solchen Werten wollte ich mich nicht unterwerfen.
Nun, ich war ein Teenager. Viele Pubertierende haben einen gewissen Hang zur Übertreibung. Da wird ein gefällter Baum zu Waldsterben. Ein gebrochenes Herz führt zu wochenlangen Heulkrämpfen, nur übertönt von der neuesten Kuschelrock-CD. Aber es gab auch praktische Gründe für meine Geranien-Abneigung. Die Nachbarn über uns lebten jahrelang ihre Liebe zur Pflanze in Blumenkästchen aus. Theoretisch ist das ja ihr Problem. Theoretisch. Jedes Jahr lagen tonnenweise Blüten auf unserem Balkon, die weggekehrt werden mussten. Kaum war der Plattenboden wieder frei von dem vornehmlich roten Flor, fing das Ganze wieder von vorne an. Genauso muss sich Sisyphos gefühlt haben.

Perspektivenwechsel
All meine Vorurteile über die Geranie hielten sich hartnäckig. Jahrelang waren mir bunte Kleinstadtbalkone ein Dorn im Auge. Doch, ich wurde älter. Ich ging weg. Ein Jahr USA und ich sah die traditionelle Seite der Schweiz auf einmal mit anderen Augen. Plötzlich fand ich es toll, dass die Schweizer ihre Häuserfassaden mit Geranien herausputzen. Ist doch eigentlich ganz nett anzuschauen. Und wie selbstlos von den Anwohnern, ihre Balkone speziell zur Begeisterung der Passanten zu dekorieren. Erst wenn du in der Ferne bist, merkst du, wie schön die Heimat ist.
Nun wohne ich in meiner ersten eigenen Wohnung und habe einen kleinen Balkon, der bepflanzt werden will. Meine Perspektive hat sich geändert. Negative Assoziationen mussten zugunsten von praktischen Vorteilen weichen. Die Geranie kommt in allen möglichen Farben und Formen daher. Sie besitzt eine lang anhaltende und reiche Blütenpracht. Und allem voran ist sie enorm pflegeleicht. Wenn du einmal das Giessen vergisst, lässt sie nicht gleich den Kopf hängen.
Werde ich langsam zum Spiesser?
Ich glaube aber auch, dass ich mich in den paar Jahren seit der Pubertät einfach verändert habe. Ich höre meinen Vater noch auf den ungeliebten Wanderungen sagen: «Wenn du einmal arbeitest und den ganzen Tag drinnen bist, lernst du solche Ausflüge zu schätzen.» Für mich waren das leere Parolen mit dem alleinigen Zweck, mein Gemüt zu beruhigen. Heute muss ich zugeben, «Papa, du hattest recht!» Die Zeiten und Prioritäten ändern sich. Vielleicht werde ich langsam selbst zum Spiesser, vielleicht ist es Teil der heutigen Gesellschaft oder es ist einfach die ganz normale persönliche Entwicklung, aber ich mag jetzt Dinge, die ich früher bünzlig, langweilig und doof fand. Sogar Geranien an alten Bauernhäusern.
Damit Passanten auch vor deinem Haus feuchte Augen bekommen.

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Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.