
Meinung
«The Grand Tour» ist zu Ende – und damit eine ganze Ära
von Samuel Buchmann
20 Jahre hat die Videoplattform Youtube schon auf dem Buckel. Ich sage Happy Birthday und nutze die Gelegenheit, das Schweizer «Kulturgut» auf Youtube angemessen zu würdigen.
Heute vor 20 Jahren hat Jawed Karim das erste Youtube-Video hochgeladen. «Me at the Zoo» hiess es. Zur Feier dieses 20. Jahrestags hat sich auch Kollege David Lee auf den Weg in den Zoo gemacht, um das Video nachzustellen. Allerdings nicht nach San Diego (Spesenantrag wurde abgelehnt), sondern nach Zürich.
Zu diesem Jubiläum alles Gute:
20 Jahre nach Jaweds Clip ist Youtube nicht einfach nur eine Videoplattform, sondern ein regelrechter Lebensberater. Kochen, Sport, Musik, Tutorials für absolut JEDE Lebenslage, virtuelle Psychotherapie – es gibt nichts, was die Plattform nicht bietet. Mehr als drei Millionen Kanäle sind Teil von Youtubes Partnerprogramm, erhalten also teilweise Geld für ihren Content – schätzungsweise können weltweit zwischen 500 000 und 600 000 Menschen von dem Einkommen, das sie über Youtube erzielen, leben. Das sind nicht nur Einnahmen aus den Werbungen, die Youtube einblendet, sondern auch über Kollaborationen der Creator mit Firmen, Affiliate-Links oder Patreon (Liste nicht abschliessend).
Topverdiener ist der US-Amerikaner James Donaldson alias Mr. Beast. Seine Channels weisen insgesamt 220 Millionen Abonnenten auf. Im Jahr 2024 verdiente er gemäss Statista circa 82 Millionen US-Dollar, davon rund 50 Millionen durch seine Youtube-Aktivitäten und -Kollaborationen.
Auch Videos aus der Schweiz haben zum Erfolg von Youtube beigetragen. Jeden Beitrag zu nennen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Darum habe ich zehn Schweizer Videos ausgewählt, die entweder auf oder durch Youtube besonders nachhaltig für Furore gesorgt haben und teilweise bis heute Kult sind. Dabei beziehe ich mich nicht auf Klickzahlen oder besonders nützliche Inhalte, sondern auf meine völlig subjektive Einschätzung des popkulturellen Impacts der Videos. Gerne kannst du in der Kommentarspalte weitere Videos nennen.
Am 9. Mai 2002 – also rund 3 Jahre vor dem ersten Youtube-Video – hat das Schweizer Radio und Fernsehen eine Dokumentation über den FC Basel 1893 veröffentlicht. Die Doku heisst «Den Topf im Kopf» und porträtiert das Team um den Zürcher Trainer Christian Gross, das nach 22 Jahren Pause wieder Schweizer Meister wurde und die erfolgreichste Zeit eines Schweizer Klubs in der Geschichte des Schweizer Fussballs einleitete. Auf Youtube findet sich bis heute die Kabinenansprache von Gross, der sich einen Disput mit Mittelfeldregisseur Hakan Yakin lieferte.
Das Jugendformat «Mash TV» vom Regionalsender Tele Basel produzierte 2009 eine Reportage über die Party «Drei Jahre Kra.ch» im solothurnischen Breitenbach. Dabei gab es Kurzinterviews mit verschiedenen Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Party. Der Baselbieter Heshurim Aliu, ebenfalls Besucher der Party, wurde zur Stimmung der Party befragt, worauf er antwortete, die Party sei «s beschte wos je hets gits». Dieser Satz wurde nicht nur zum Schweizer Jugendwort 2009, sondern ist bis heute von Leuten zu hören.
2013 veröffentlichte das SRF neue Folgen der Doku «Auf und davon». Die Stars dieser Episode sind die Familie Schönbächler rund um Vater Hermann, die nach Kanada ausgewandert sind. Die Schönbächlers bauen ihr Grundstück um und Vater Hermann ist samt Sohn Richi mit dem Bagger zugange. Trotz Hermanns Warnung fällt Sohn Richi vom Bagger, was den Vater zum Kultspruch «Richi! I ha gseit du söusch di guet häbe» veranlasste. Auch diesen Spruch kennt man in der Schweiz, landauf, landab bis heute.
2001 wurde auf dem mittlerweile nicht mehr existenten TV-Kanal TV3 die Talkshow «Fohrler Live» ausgestrahlt. Eine Episode hiess: «Jugend und Gewalt – ich schlage zu». Dabei ging es um die Gewalt unter Jugendlichen in der Schweiz um die Jahrtausendwende. Statt Fachpersonen aus der Psychologie, Staatsanwälte oder Politiker lud man die Jugendlichen selbst ein – und die Sendung eskalierte komplett. Auf Youtube erlebte die Sendung ein Comeback mit dutzenden Reposts und gesamthaft weit über einer Million Klicks. Sprüche wie: «Wettsch min Fettli ha?», «Meinsch du bisch krass, well du Bändeli ahäsch?», «Da kasch grad warte bis e Fuscht ind Frässi bechunnsch», sind nur die Spitze des Eisbergs.
Die Schweizer Firma DOSA Film- und Fernsehproduktion hat 2014 anlässlich einer Messe in Luzern Besucher und Besucherinnen interviewt. Dabei gab es die Möglichkeit, vor der Kamera persönliche Grüsse auszurichten. Jaton Ceresalingam aus dem luzernischen Wolhusen nutze die Gelegenheit, seine Eltern zu grüssen. «Ich wett min Vatter grüesse. Hallo Vatter. Und au mini Muetter. Hallo Muetter» lautete der Satz, der unter Schweizer Jugendlichen zum Kultsspruch avancierte. Das Video erreichte über eine Million Views. Die Gerüchte, wonach sich der Junge wegen Mobbings später das Leben nahm, sind zum Glück falsch.
Es ist wohl DER Klassiker der Schweizer Internetkultur. In den frühen 2010er Jahren kamen Jugendliche auf die Idee, die bekannte Stop-Motion-Kinderserie «Pingu» neu zu synchronisieren. «Pingu», selbst eine Schweizer Kreation, spricht in der Originalversion die Fantasiesprache «Pinguisch». Die Nachvertonung erfolgte dann in derbem Schweizer Dialekt, ging in Rekordzeit viral und erreichte hohe sechsstellige Zugriffszahlen – viel für die damals noch kleine Schweizer Youtube-Nutzerschaft. Es zeigt den Protagonisten Pingu in alltäglichen Situationen von Kindern. Der Begriff «Du huere Michi» ist ein beleidigender Ausruf Pingus an einen anderen Charakter, den man vor allem bei Ü30-Personen in der Schweiz heute noch hört. Oben ein Beispiel der mehrteiligen Serie.
Der Regionalsender «Tele Züri» ist bekannt für seine Reportagen – vor allem weil die Protagonisten innerhalb kürzester Zeit zu Memes werden. So auch die Reportage über die Demonstration zum 1. Mai 2009. Dabei berichtet der Sender über Kinder und Jugendliche, die die Krawalle als «Gaffer» begleiten. Als Mario Nottaris und Martina Kälin die jungen, meist männlichen Personen über ihre Motive befragen, lassen diese die Öffentlichkeit wissen, dass sie «eifach wännd Bulle schlah». Trotz (oder wegen) dieser polarisierenden Aussage, wurde das Video vor rund 15 Jahren zum Jugendkulturgut.
Eine weitere Trouvaille aus dem Archiv von «Tele Züri» ist die Geschichte rund um Yilmaz Z. Dabei handelte es sich um einen Newsbeitrag über den aus Wetzikon stammenden IV-Rentner Yilmaz Z., der 2009 am Zürcher Hauptbahnhof von einigen Jugendlichen gewaltsam angegangen wurde. Für den Beitrag und die Art und Weise, wie Yilmaz Z. dargestellt wurde, musste sich der Regionalsender einige Schelte gefallen lassen – kritische Stimmen monierten, das Opfer sei der Lächerlichkeit preisgegeben worden. Dennoch hallen seine markigen Sprüche bis heute nach. Insbesondere der Ausspruch: «Angst und Gäld han ich kei» prägten den Wortschatz der Jugendlichen der damaligen Zeit nachhaltig.
«Kleshtrimania» darf mit Fug und Recht als Urgestein der Schweizer Meme-Kultur bezeichnet werden. Kurz nach der Entstehung von Youtube nämlich. Auch hier handelt es sich um eine Schweizer Nachsynchronisierung eines Films – «Fantastic 4». Die Videos handelten meist vom jungen Sputim und seiner (Ex-)Freundin Kleshtrimania. Dabei nehmen die Produzenten – welche selber einen migrantischen Hintergrund haben – den sogenannten «Balkan-Slang» auf die Schippe, indem sie beim synchronisieren einen übertriebenen Akzent haben, der dem Albanischen entstammt. Dies erkennt man vor allem durch das glottale R. Der Ausspruch «Gang weg vo mir, Sputim» erlangte damals Kultstatus.
Vor rund 15 Jahren kam es zum legendären Lachanfall des Bundesrates und Finanzministers Hans-Rudolf Merz. In einer Parlamentsrede über Zollbestimmungen konnte er sich ob der staubtrockenen Ausdrucksweise des Textverfassers nicht mehr beherrschen. Dabei ging es um Importbestimmungen von gewürztem Fleisch. Als der Verfasser in seinem Text dann noch Beispiele aufgeführt hatte, war’s um Merz geschehen. Das Video des Lachanfalls machte über die Landesgrenzen hinaus die Runde – und sogar ein Hardstyle-Techno-Remix von Merz Rede wurde produziert.
Eine virale Lawine löste 2013 ein junger Ostschweizer aus. Er filmte sich selbst, wie er die Worte «Morge mitenand» singt, dabei splitternackt dasteht und sein Genital im Rhythmus seines «Gesangs» auf und ab schwingt. Kurz darauf findet er erste Nachahmer – männlich wie weiblich. Selbst Tagesmedien wie 20 Minuten berichten über den Trend. Keine Angst: Das Gesicht und das Genital des jungen Mannes sind auf dem Video geblurrt.
Welche Videos sind dir besonders in Erinnerung geblieben? Schreib es in die Kommentare.
Seit ich herausgefunden habe, wie man bei der ISDN-Card beide Telefonkanäle für eine grössere Bandbreite aktivieren kann, bastle ich an digitalen Netzwerken herum. Seit ich sprechen kann, an analogen. Wahl-Winterthurer mit rotblauem Herzen.